Die Suende der Engel
gesichert.
Maximilian wußte, er hätte dem Schicksal dankbar sein müssen. Es schien ihm fast unwirklich, wie glatt und einfach er bis nach Südfrankreich gelangt war. Von Frankfurt aus hatte ihn ein Autofahrer bis in die Gegend von Karlsruhe mitgenommen, und dort war er auf einem Rastplatz auf eine deutsche Schulklasse gestoßen, die zu einer zweiwöchigen Klassenfahrt nach Avignon unterwegs war. Nach einigem Zögern hatten die zwei begleitenden Lehrerinnen zugestimmt, daß er mitkommen dürfe. Einfacher und komplikationsloser als im Gedränge von drei-βig achtzehnjährigen Schülern, die zwar jünger waren, aber kaum jünger aussahen als er, hätte er gar nicht über die Grenze kommen können. Da er vermutete, daß gegen ihn bereits ein Haftbefehl lief, hatte er vor diesem Punkt der Reise größte Sorge gehabt, auch wenn die deutschfranzösische Grenze zu jenen innereuropäischen Grenzen gehörte, an der nur noch stichprobenartige Kontrollen stattfanden. Aber es gab keinerlei Scherereien. Eine der Lehrerinnen sammelte alle Pässe ein, auch seinen, und drückte sie einem Grenzbeamten in die Hand; der Mann schaute flüchtig in ein paar Ausweise hinein, gab die Papiere dann zurück und winkte den Bus weiter. Es gab allerdings noch einen kritischen Moment, als die Lehrerin einzeln die Namen aufrief, um den jeweiligen Paß zurückzugeben.
»Mario Beerbaum!« Sie stockte, sah genauer hin. »Ihr Paß ist abgelaufen!«
Maximilian erkannte Mißtrauen auf ihrem Gesicht. Er mußte jetzt sehr überzeugend sein. »Ach Gott, dann hab’
ich den falschen erwischt!« Er stand auf, ging durch den schmalen Gang schwankend nach vorne. Zögernd reichte sie ihm seinen Ausweis. Sie war jung und hübsch und hatte lange, rote Haare.
»Das kommt davon, wenn man die alten Dinger immer mit sich herumschleppt!« Er lächelte. Er wußte, daß Frauen bei seinem Lächeln dahinschmolzen. »Hoffentlich kriege ich keine Probleme bei der Rückfahrt!«
»Es finden ja sowieso kaum noch Kontrollen statt«, entgegnete sie. Das Mißtrauen auf ihrem Gesicht hatte sich aufgelöst. Er sah zu unbefangen aus, jungenhaft und arglos. Und zu schön. Er konnte erkennen, daß sie ihn attraktiv fand, daß seine Schönheit ihr kurzes Gefühl von Unruhe zerstreut hatte. So war es immer gewesen, bei beiden Brüdern. Die Menschen hatten sie wegen ihres Aussehens gemocht, hatten ihnen vertraut, hatten nicht daran gezweifelt, es mit netten, liebenswerten Jungen zu tun zu haben. Maximilian hatte das oft verwundert. Als ob Schönheit gleichzusetzen war mit Ehrlichkeit, fairem und anständigem Verhalten! Die Menschen lebten in Klischees. Sie erwarteten den Teufel in der Gestalt des Teufels, den Engel in der Gestalt des Engels. Sie begriffen nicht, daß das Tragen von Masken die Tagesordnung bestimmte.
Von da an lief alles ohne Probleme. Natürlich stand der fremde Gast im Mittelpunkt des Interesses der Schüler. Er war Mario, und er war ein Jurastudent im vierten Semester, und er konnte alle Fragen nach seiner Person beantworten, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln.
Als sie Avignon erreichten, war es Nacht, und es fuhr kein Bus mehr nach Grasse. Maximilian wußte, wo der betreffende Bus abfuhr, denn einmal, vor vielen Jahren, war er mit Janet im Zug bis Avignon gefahren, und dann hatten sie den Bus weiter nach Grasse genommen. Wie alt
mochte er gewesen sein? Zwölf oder dreizehn, erinnerte er sich. Damals war er wegen Schuleschwänzens aufgefallen, und Janet hatte beschlossen, sich für ein paar Wochen ganz ihm allein zu widmen und herauszufinden, wo die Gründe für seine Verweigerungshaltung lagen. Natürlich hatte das nichts gebracht. Ihre anteilnehmenden Fragen hatte er nur als aufdringlich empfunden und sich im übrigen verzehrt vor Heimweh nach seinem Bruder, der mit Phillip zu Hause geblieben war. Nach knapp zehn Tagen hatte Janet den Urlaub resigniert abgebrochen und die Heimreise angetreten. Wenn Janet gekränkt gewesen war, so hatte sie es nicht gezeigt, sie hatte sich vielleicht nur noch ein wenig mehr als vorher in sich zurückgezogen.
Maximilian fand heraus, daß er am nächsten Morgen um halb sechs Uhr die nächste Gelegenheit hatte, nach Grasse und dann weiter nach Duverelle zu kommen. Er suchte ein Bistro auf und ergatterte trotz der späten Stunde noch ein warmes Essen. In Avignon wimmelte es von Touristen, und niemand nahm Notiz von dem dunkelhaarigen Mann, dessen Hände stets leicht zitterten. Er merkte, daß sein Körper zusehends
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