Die Suende der Engel
Mario; zudem meinte sie, jeden Moment vor Schmerzen ohnmächtig zu werden. Ihr Fußgelenk mußte zumindest angebrochen sein. Sie schluchzte und wimmerte und spürte dabei, daß ihre Wangen heiß wurden und wie Feuer brannten.
»Tu das nicht, Mario, bitte!«
Er hielt sie nicht mehr fest, und sie sackte zu Boden,
krümmte sich zusammen wie ein Embryo. Sie hörte ihn keuchen. Er hatte aufgehört, sie zu schlagen.
»Steh auf!« Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Wir haben noch ein ganzes Stück Weg vor uns!«
»Ich kann nicht«, murmelte sie in den Staub des Weges hinein, zu leise, als daß Mario sie hätte hören können. Sie spürte seine Hände an ihren Schultern und schrie unwillkürlich abermals auf, krümmte sich noch enger zusammen.
»Ich tu dir nichts«, sagte er. Diesmal zog er sie sehr vorsichtig in die Höhe, stellte sie auf ihre Beine. Sie verlagerte sofort ihr Gewicht auf den gesunden Fuß, während ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen.
»Ich glaube, ich brauche einen Arzt«, stieß sie hervor.
Er strich ihr die langen, wirren Haare zurück, berührte sanft ihr brennendes Gesicht. »Deshalb?«
»Nein. Mein Fuß. Als ich gestürzt bin... er ist bestimmt angebrochen...«
Er beugte sich hinunter und betastete vorsichtig ihren nackten Knöchel. Sie schaute auf seinen gesenkten Kopf hinab. Im Film, oder wenn sie einfach eine ungewöhnlich starke und entschlossene Frau gewesen wäre, hätte sie ihn jetzt mit einem Schlag ins Genick zu Fall gebracht und außer Gefecht gesetzt. Aber womit? Mit der bloßen Faust? Dies zu tun überschritt ihre Möglichkeiten, nicht nur ihre körperlichen, das wußte sie. Das Äußerste, dessen sie fähig war, hatte sie versucht; sie hatte die sich für einen Moment bietende Gelegenheit zur Flucht genutzt und war gescheitert. Von nun an konnte sie nur noch versuchen, ihn durch Fügsamkeit bei Laune zu halten.
Mario richtete sich wieder auf. »Ich glaube nicht, daß etwas gebrochen ist«, sagte er, »aber sehr schlimm verstaucht. Wenn du dich auf mich stützt, meinst du, du kannst laufen?«
»Ich weiß nicht... kann ich nicht im Auto warten, und du holst Hilfe?« Sie bemühte sich, so zu wirken, als habe sie keinesfalls vor, einen erneuten Fluchtversuch zu wagen, sondern als sorge sie sich wirklich nur um ihren schmerzenden Fuß. Aber sie sah bereits, daß sich seine Miene verfinsterte.
»Nein«, sagte er, »wir bleiben zusammen. Wir müssen doch nach Hause.«
»Ich habe schreckliche Schmerzen, Mario. Ich will ja auch mit dir nach Hause, aber vielleicht könnte vorher ein Arzt...«
»Nein!« Das klang hart und bestimmt. »Ich werde mich um deinen Fuß kümmern. Wir haben noch ein Stück zu laufen, aber das wirst du schon schaffen. Warum mußtest du auch wegrennen? Dann wäre das alles nicht passiert!«
Die Besorgnis, die er gerade noch gezeigt hatte, war schon wieder verschwunden. Er wirkte etwas verärgert und sehr unnachgiebig, so, als könnte ihn das geringste falsche Wort gefährlich reizen. Er war wieder zu einem unberechenbaren Feind geworden, der jeden Moment erneut die Beherrschung verlieren konnte. Tina legte ihren rechten Arm um seinen Hals, er seinen linken um ihre Mitte. So gestützt konnte sie sich mit einiger Mühe vorwärts bewegen, wenn auch der Schmerz noch immer tobte und es sie schauderte beim Gedanken an einen langen, steinigen Aufstieg.
Voller Angst fragte sie sich, als was sich das »Zuhause« entpuppen würde und was Mario dort mit ihr vorhatte.
FREITAG, 9. JUNI 1995
Der Morgen verhieß einen heißen, wolkenlosen Tag. Es war kurz nach acht Uhr, als Maximilian in Duverelle aus dem Bus stieg, und schon zu dieser frühen Stunde stand das Thermometer auf siebenundzwanzig Grad. Als glei-βend helle Scheibe kletterte die Sonne am östlichen Horizont in den Himmel. Ein Windhauch wirbelte Staub von der Straße auf und trug einen intensiven Geruch nach Rosmarin mit sich.
Maximilian ging langsam an den wenigen weißen, kleinen Häusern entlang, überquerte den Marktplatz, auf dem die Bauern der Umgebung dabei waren, ihre Stände für den heutigen Markttag aufzubauen. Es roch nach frisch gebackenem Brot und nach Gewürzen der Provence. Er hatte es nicht eilig, denn nun, fast am Ziel, wurde er immer unsicherer, was er tun sollte. Hatte Mario ein Mädchen bei sich? Und wenn ja, so hatte er ihm sicherlich nichts von der Existenz eines Zwillingsbruders erzählt. Er würde ein riesiges Durcheinander anrichten, wenn er jetzt plötzlich
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