Die Suende der Engel
um!«
Obwohl niemand sie verstand, setzte ihre sichtbare Verzweiflung die Zuschauer endlich in Bewegung. Drei kräftigen Männern gelang es endlich, den tobenden Mario auf die Füße zu stellen. Er blieb stehen, machte keinen weiteren Versuch, den Franzosen erneut anzugreifen. Er atmete schwer, sein Gesicht glänzte naß vor Schweiß, und ein Büschel Haare fiel ihm tief in die Stirn, was ihm ein wildes, gefährliches Aussehen verlieh. Er schien keinen Kratzer davongetragen zu haben.
»Bist du wahnsinnig?« schrie Tina. Sie war außer sich vor Entsetzen. »Warum hast du das getan?«
Der junge Mann auf dem Boden hielt die Augen geschlossen, gab keinen Laut von sich, rührte sich nicht. Offenbar hatte er das Bewußtsein verloren. Sein ganzes Gesicht war blutverschmiert. Jetzt drängten sich alle um ihn, jeder versuchte zu helfen, sogar der verschlafene Barkeeper kam hinter seiner Theke hervor. Allerdings dachte niemand daran, Musik und Lichtorgel auszuschalten. Noch immer tobten die wilden Rhythmen durch den niedrigen Schuppen.
Mario starrte Tina an. »Du weißt genau, weshalb ich es getan habe. Du weißt es!«
»Du bist verrückt!«
Er packte sie am Arm. »Du kommst jetzt mit! Du wirst dich nicht länger von fremden Männern anlächeln lassen.
Hast du eigentlich eine Ahnung, wie du aussiehst? Wie du provozierst? Wie du dich anbietest?«
Zum ersten Mal hatte sie wirklich Angst vor ihm: eine echte, unkontrollierbare Angst, die hart an der Grenze zur Panik stand. Sie blickte sich hilfesuchend um, aber niemand achtete auf sie und Mario, alle waren nur mit dem regungslosen Mann auf dem Fußboden beschäftigt. Irgend jemand schrie etwas auf französisch, und Tina verstand soviel, daß ein Notarzt gerufen werden sollte. Der Barkeeper verschwand in einem Nebenraum, in dem sich vermutlich ein Telefon befand. Mario strebte, die sich sträubende Tina im Schlepptau, Richtung Ausgang.
»Du kannst jetzt nicht einfach abhauen!« Tina mühte sich vergeblich, ihn zurückzuhalten. »Du hast diesen armen Kerl halbtot geschlagen! Sie werden nach dir fahnden, wenn du jetzt wegläufst!«
Sie erreichte ihn nicht mit dem, was sie sagte, und sie hatte den schrecklichen Eindruck, daß sein eiliger Aufbruch keineswegs etwas damit zu tun hatte, daß er befürchtete, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ihm schien völlig unklar, daß etwas Unrechtes geschehen war. In seinen Augen hatte er nur getan, was nach Lage der Dinge getan werden mußte, und nun galt es, Tina so rasch wie möglich von diesem Ort der Verderbnis fortzubringen.
Das ist nicht mehr mit Tabletten zu entschuldigen, schoß es ihr durch den Kopf, das ist mit überhaupt nichts mehr zu entschuldigen.
»Mario, sei doch vernünftig! Du kannst nicht weglaufen. Ich werde nicht mitkommen!« Sie stemmte die Füße in den Boden wie ein störrisches Pferd, aber sie hatte seine Kraft unterschätzt und seine unvermindert anhaltende Gewaltbereitschaft. Er zerrte sie mit einem brutalen Ruck durch die Tür hinaus ins Freie, in die jetzt langsam einfallende
Dunkelheit der Juninacht. Niemand hier draußen hatte etwas von dem mitbekommen, was drinnen in der Diskothek passiert war, und so machte auch hier keiner Anstalten, sie beide aufzuhalten. Ein paar gleichgültige Blicke streiften Tina, die von Mario eindeutig gegen ihren Willen vorwärts gezerrt wurde, jedoch schien sich niemand bemüßigt zu fühlen, einzugreifen. Das war eine Sache zwischen zwei Leuten, eine Eifersuchtsgeschichte vermutlich, und in derlei Dinge mischte man sich nicht ein. Vielleicht, wenn Tina um Hilfe geschrien hätte...
Später in der Nacht sollte sie sich verzweifelt fragen, warum sie es nicht getan hatte: geschrien, so laut sie konnte. Es wäre ihr zu verrückt vorgekommen, zu albern und zu hysterisch. Und irgendwo hing es auch mit ihrer guten Erziehung zusammen. Man fiel nicht unangenehm auf der Straße auf. Schrie nicht herum wie ein Marktweib und machte seine Probleme nicht öffentlich. Zu guter Letzt: Was hätte es genützt? Sie hatte kein Geld dabei, hatte ihren Paß im Ferienhaus liegen lassen. Am Ende hätte sie doch mit Mario zurückfahren müssen.
Sie hatten das Auto erreicht, und er stieß sie grob auf den Beifahrersitz, knallte die Tür zu. In der Ferne meinte Tina die Sirene eines Krankenwagens zu hören. Aufstöhnend barg sie das Gesicht in den Händen.
Mario fiel neben ihr auf den Fahrersitz, verfehlte dreimal mit dem Schlüssel das Zündschloß, so gewaltsam versuchte er, ihn hineinzustoßen.
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