Die Sünde des Abbé Mouret
wünschten. Einen
ganzen Sommer lang Sonne getrunken, blumenhaft gelebt zu haben, in ständigem Wohlgeruch
verströmt zu sein und dann entrückt zu werden beim ersten Leiden,
in der Hoffnung, irgendwo wieder aufzuerstehen, war das nicht ein
genugsam erfülltes langes Leben, das nur verunglimpft werden konnte
durch eigensinniges Sich-überleben-Wollen.
Wohltun mußte der Tod, eine endlose Nacht so vor sich haben, um
des kurzverlebten Tages zu gedenken und die flüchtigen Freuden ewig
zu bewahren!
Sie blieb stehen, wehrte sich aber nicht mehr inmitten der
großen Andacht des Paradeis. In dieser Stunde glaubte sie zu
verstehen. Der Garten behielt ihr den Tod vor als höchste Wonne.
Zum Sterben hatte er sie mit so viel Zartheit geleitet. Nach der
Liebe kam nur noch der Tod. Und noch nie hatte der Garten sie
inniger geliebt; undankbar hatte sie sich erzeigt, als sie ihn
verklagte; immerdar war sie sein geliebtes Kind. Die Schweigsamkeit
der Blätter, die dunkel verstellten Pfade, die Rasen, auf denen die
Winde entschlummerten, sie alle schwiegen nur, um ihr die Lust
langen Schweigens näher zu bringen. Gemeinsam mit ihr wollten sie
in die Ruhekälte eintreten; in trockenem Laub wünschten sie sie zu
entführen, vereist wie das Quellengewässer, mit Gliedern,
steifgefroren wie die kahlen Äste und mit sanft schlummerndem Blut.
Sie würde ihr Leben bis zur Neige miterleben, bis zum Tod.
Vielleicht war es schon beschlossen, daß sie in kommenden
Frühlingszeiten als Rose erwachte, als blonde Wiesenweide oder
junge Waldbirke. Das große Weltgesetz war es: sie mußte
sterben.
Da durchwanderte sie zum letztenmal den Garten auf der Suche
nach dem Tode. Welchem duftenden Gewächs tat ihr Haar not, um den Duft seiner Blätter zu
verstärken? Welche Blume ersehnte als Gabe den Atlas ihrer Haut,
die unschuldige Weiße ihrer Arme, die zarte Röte ihrer Brust?
Welchem leidenden Strauch sollte sie ihr junges Blut weihen? Den an
Alleerändern sprossenden Gräsern hätte sie sich gerne dienstbar
gemacht und sich dort zu Tode gebracht, auf daß es mächtig grüne
und kräftig aus ihr wüchse, vogelreich im Mai und von heißen Sonnen
geküßt. Aber das Paradeis verhielt sich noch lange schweigend und
wollte sich nicht dazu verstehen, ihr anzuvertrauen, in welch
letzter Liebkosung es sie zu entführen gedachte. Sie mußte alle
Stätten wieder aufsuchen, alle ihre Lieblingswege durchpilgern. Es
war jetzt fast vollkommen Nacht und ihr schien, sie sänke nach und
nach in die Erde. Sie erstieg die hohen Felsen und stellte ihnen
die Frage, ob sie auf dem Kieselbett ausatmen sollte. Sie
durchquerte den Wald und wünschte sich in schrittverlangsamender
Erwartung, ein Eichbaum möge stürzen und sie in hoheitsvollem Sturz
begraben. Sie ging an den Wiesenbächen entlang und beugte sich bei
fast jedem Schritt vor, um zu sehen, ob auf dem Wassergrund kein
Lager bei den Wasserrosen ihr bereitet sei. Nirgends rief sie der
Tod oder streckte die kühle Hand nach ihr. Doch täuschte sie sich
nicht, wohl war es das Paradeis, das ihr helfen sollte zu sterben,
wie es sie die Liebe gelehrt hatte. Sehnsüchtig durchstreifte sie
das Gesträuch wie an dem lauen Morgen, als sie auf der Suche nach
Liebe war. Und plötzlich, in dem Augenblick, als sie in den
Rosengarten trat, ersah sie den Tod in den abendlichen Düften.
Wollüstig lachte sie und begann zu laufen. Mit den Blumen mußte sie
sterben.
Vorerst lief sie in den Rosenwald. Dort im
letzten Dämmerschein suchte sie in den Hecken, pflückte von allen
Beeten Rosen, die beim Nahen des Winters ermatteten. An der Erde
pflückte sie Rosen, ohne der Dornen zu achten, vor sich pflückte
sie Rosen mit beiden Händen; Rosen pflückte sie aus der Höhe, hob
sich auf die Zehenspitzen und bog die Zweige nieder. So in Eile war
sie, daß sie Zweige knickte, sie, die sonst jeden Grashalm behutsam
achtete. Bald hatte sie eine Rosenlast auf den Armen, unter der sie
wankte. Nachdem sie die Hecken geplündert und sogar die losen
Blätter eingesammelt hatte, machte sie sich auf zum Gartenhaus;
dort ließ sie im Zimmer mit der blauen Deckenbemalung die
Rosenbürde zur Erde gleiten und begab sich in den Garten
zurück.
Jetzt sammelte sie die Veilchen auf, wand sie zu riesigen
Sträußen, die sie einen nach dem anderen an die Brust preßte. Dann
suchte sie die Nelken zusammen und schnitt sie bis auf die
kleinsten Knospen ab, band mächtige Büsche weißer Nelken, wie
milchiges Sprühen, mächtige Büsche roter Nelken wie
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