Die Sünde in mir
hatte Franks Aufzeichnungen gelesen und ihm von seinem Gespräch mit Nicole erzählt.
„Immerhin hat sie mich nicht angeschrien, wie beim letzten Mal“, beendete er seine Ausführungen.
„Was halten Sie von dem Bericht der Mutter?“, wollte Frank wissen.
Der Professor wiegte den Kopf hin und her und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander.
„So eine Aussage ist immer subjektiv“, begann er.
„Die Mutter hat das Geschehen sicher so erlebt, wie sie es geschildert hat. Die Frage ist, wie hat Nicole das alles empfunden? Ein Kind kann Dinge ganz anders auffassen, als ein Erwachsener. Kinder durchschauen die Hintergründe nicht, deshalb neigen sie dazu, sich für alles selbst die Schuld zu geben. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Nicole sich schuldig am Tod ihrer Schwester fühlte, obwohl sie nicht bei dem Unfall dabei war. Viele Kinder fühlen sich verantwortlich für die Trennung der Eltern, obwohl sie nichts dafürkönnen.“
Frank nickte vor sich hin.
„Wie kann uns dann das Gespräch nützen, das ich mit Frau Lindemann geführt habe?“
„Nun, wir wissen jetzt, was damals passiert ist. Vielleicht schaffen Sie es ganz vorsichtig nachzubohren. Stellen Sie Fragen über die Schwester, aber wenn Sie merken, dass sie das Thema abblockt, hören Sie auf und versuchen Sie etwas anderes.“
Das war Frank zu schwammig. Er hätte sich genauere Anweisungen gewünscht. Der Professor schien das zu spüren.
„Jede Psyche ist anders, Dr. Fabian“, führte er aus, „es ist nicht so wie bei der Anatomie, wo jedes Organ seinen Platz hat und das bei fast jedem Menschen gleich beschaffen ist, Anomalien ausgeschlossen. Die Psyche ist bis heute nicht absolut erforscht. Dinge, die vor dreißig Jahren herausgefunden wurden, sind heute schon wieder ad absurdum geführt. Ich vergleiche das gerne mit der Tiefsee. Wir erforschen alles, was es auf der Erde gibt, aber die Tiefsee birgt immer noch Geheimnisse und Kreaturen, die wir noch nie gesehen haben. Mit der Psyche verhält es sich ganz ähnlich. Es gibt kein Patentrezept.“
„Das macht diesen Teil der Medizin so schwierig“, seufzte Frank.
„Und so interessant“, setzte Wieland hinzu.
„Was halten Sie von einer Hypnosesitzung?“, wollte der Assistenzarzt nun wissen.
„Weil Sie eine Fortbildung dazu gemacht haben, meinen Sie, diese Methode schon anwenden zu können?“ Der Professor klang skeptisch.
„Warum nicht? Es ist völlig harmlos. Wenn sie nicht hypnotisiert werden will, kann ich nichts machen. Aber wenn sie mitmacht, kommen wir dem Tathergang vielleicht näher.“
„Sie wollen also lediglich die Tat aufklären?“
Frank überlegte, was falsch daran war. So wie der Professor das sagte, klang es, als wäre Frank ein Klatschreporter, der nur an einer guten Story interessiert war.
„Ich würde gerne wissen, warum sie es getan hat. Vielleicht finden wir dann den Auslöser“, sagte er vorsichtig.
Wieland nickte und presste seine Finger so fest zusammen, dass die Kuppen weiß wurden.
„Sie meinen, wenn Sie den Auslöser finden, ist das Problem gelöst?“
„Nein“, Frank schüttelte den Kopf, „aber es würde mir helfen sie zu verstehen.“
„Sie hadern mit dem, was sie getan hat, weil sie sich nicht vorstellen können, dass sie zu so etwas fähig ist. Da sind Sie wohl nicht der Einzige. Vielleicht erahnen Sie, wie es ihrem Ehemann und ihren Kindern geht.“
Der junge Arzt senkte den Kopf. Natürlich hatte er schon daran gedacht, zumal die vierzehnjährige Tochter Zeugin der Tat gewesen war. Das Mädchen würde diese schrecklichen Bilder nie wieder aus dem Kopf bekommen. Die eigene Mutter zu sehen, wie sie mit bloßen Händen im Körper eines Menschen wühlte …
Er schüttelte dieses Bild ab.
„Ich denke, wir behandeln sie erst einmal symptomatisch“, entschied Wieland. „Die Sache mit der Hypnose überlege ich mir noch.“
Kapitel 56
Ich sitze mit Frank in einem schönen Raum. Das Licht ist ganz warm und gelb. Es gibt hier lustige Sachen, eine Schaukelbanane zum Beispiel. Die gefällt mir besonders gut. Es ist natürlich keine richtige Banane, sondern so etwas wie eine Turnmatte, nur Gelb und geformt wie eine Banane. Ich kann mich bäuchlings darauf legen und vor und zurück schaukeln. Dann ist da noch ein buntes Seil aus Tüchern, das an einem Haken von der Decke hängt. Da kann ich mich dran festhalten, wie Tarzan an einer Liane. Ich habe mal einen Film mit Tarzan gesehen,
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