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Die Sünderin von Siena

Die Sünderin von Siena

Titel: Die Sünderin von Siena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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hatte. Niemals hatte sie die Lider geschlossen, während sie sich liebten, sondern ihn stets aufmerksam dabei angesehen, manchmal fast fragend – so jedenfalls hatte er es stets empfunden, als ob ein allerletztes Geheimnis noch zwischen ihnen bestehe –, mit ihren sprechenden grauen Augen, die sich nun niemals mehr für ihn öffnen würden.
    Es war, als stehe sie direkt neben ihm. Er glaubte, sie zu riechen, bildete sich ein, plötzlich ihre lang entbehrte Wärme wieder zu spüren.
    »Matteo«, hörte er sie sagen, mit dieser brüchigen, stets ein wenig heiseren Stimme, für ihn jedoch die allerschönste der Welt. »Matteo – mein Liebster!«
    All das war mehr, als er ertragen konnte. Der vertraute Schmerz war zurück, schneidend und brennend wie einst.
    »Warum hast du mich verlassen?«, flüsterte Matteo und grub tiefer in der Truhe, obwohl er doch genau wusste, dass er dies besser lassen sollte. »Ich konnte nichts dagegen tun, war ebenso verzweifelt wie du. Niemals hättest auch du noch mich verlassen dürfen!«
    Dann hielt er plötzlich in der Hand, was am Boden der Truhe versteckt gewesen war: die Rötelzeichnung, die ein Kind zeigte, nur eines von vielen weiteren Blättern, die erst recht niemals eine lebende Seele zu Gesicht bekommen durfte. Auf den ersten Blick hätte man fast glauben können, das Kind schlafe nur, wären da nicht der schmerzliche Zug um den Mund gewesen und das Leichentuch, das den kleinen Körper halb bedeckte.
    Matteo ließ die Zeichnung sinken, kauerte sich auf den harten Fußboden, schlang die Arme um sich. Die Frische und der Schwung des heutigen Tages waren mit einem Nu verschwunden. Jetzt umgab ihn dunkle, sternenlose Nacht.
    Was hatte er getan?

    Er hatte sie gerufen, und die grausamen Geister der Vergangenheit waren zu neuem Leben erwacht.

    ❦

    Vor Bartolo Santinis Laden angekommen, zögerte Gemma und strich den alten Umhang wieder und wieder glatt, obwohl schon längst kein einziges Fältchen mehr zu sehen war. Sie atmete tief aus. Und wenn der Vater seine Gewohnheiten geändert hatte und sie außer dem alten Luca, der ihm schon seit vielen Jahren diente, hier niemanden vorfinden würde?
    Sie musste das Risiko auf sich nehmen, das erste nur von vielen anderen, die unweigerlich folgen würden. Einfach die Straße zu überqueren, ins Wohnhaus zu stolzieren und sich dort den neugierigen Blicken der ganzen Familie auszusetzen war mehr, als sie jetzt aushalten konnte.
    Er war allein, schien Luca zu einer Besorgung fortgeschickt zu haben und stand mit dem Rücken zu ihr vor dem großen Kasten mit Schlössern und Beschlägen. In ihm wurden die wertvollsten Stoffe aufbewahrt, nur ausgesuchten Kunden vorbehalten, während die einfachere Ware ringsum in offenen Regalen gestapelt wurde. Die restliche Einrichtung bestand aus gezimmerten Wandbänken aus Zedernholz, das als besonders mottenunfreundlich galt, dazu kamen ein Schreibpult mit ein paar einfachen Hockern und zwei kleinere Tische zum Präsentieren der Tuche.
    Ihre Blicke glitten über die Leitern, mit denen sich auch noch die höchsten Fächer erreichen ließen, die Waage, die Scheren und den Abakus, Bartolos alte Rechenma schine, mit dem sich so viel schneller addieren oder subtrahieren ließ – ihr alles bis in jede Faser vertraut und doch auf einmal so fremd. Plötzlich musste sie an das Kellergeschoss denken, in dem sie als Kind so gerne gespielt hatte, wo Wein- und Ölfässer ruhten und die trockensten Plätze nicht nur der Aufbewahrung von teuren Gewürzen, sondern auch der von Salz dienten, das der Vater in eigenen Salzgärten an der Küste gewann. Bis hinüber zum Wohnhaus auf der anderen Straßenseite führten diese alten, von Holzbalken mehrfach gestützten unterirdischen Gänge, und Gemma hätte nichts dagegen gehabt, sich wie früher in ihnen zu verstecken.
    »Vater?« Ihre Stimme war auf einmal nur noch ein Wispern, so befangen fühlte sie sich. Was war ihr nur eingefallen? Niemals im Leben hätte sie auf die trügerischen Einflüsterungen jener Fremden hören sollen!
    Bartolo Santini ließ sich Zeit, bis er sich zu ihr umdrehte, und als er es tat, erschrak Gemma. Sein Gesicht erschien ihr fahl und auffallend gedunsen, mit schweren Säcken unter den Augen, die ihn müde aussehen ließen.
    »Da bist du also«, sagte er. Nichts als diese vier kümmerlichen Worte!
    Gemma spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Sie nestelte an ihrem Umhang, weil ihr plötzlich glühend heiß war, beinahe wie in Kindertagen, wenn sie ihm

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