Die Sünderin von Siena
einen ihrer zahlreichen Streiche hatte beichten müssen. Doch dieses Mal war es anders. Sie hatte nichts Unrechtes getan. Lupo war der Schuldige, nicht sie, das musste sie Bartolo nur noch klarmachen.
»Vater, ich …« Sie hielt inne.
Unzählige Male hatte sie sich die richtigen Sätze zurechtgelegt, aber plötzlich war alles verschwunden. Da war nur noch ein schwarzes Loch, das sich mit rasender Geschwindigkeit weiter in ihr ausbreitete.
»Ich habe Lupos Haus verlassen«, fuhr sie fort. »Ich musste es tun. Ich konnte dort nicht weiter mit ihm leben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was er …«
Warum lief es so schief?
Alles, was sie in anklagendem Ton hervorstieß, klang sogar in ihren eigenen Ohren nur beschränkt und klein und dumm. Es gab keine Worte für das, was sie unter Lupos Dach ausgestanden hatte, das wurde ihr mit einem Schlag bewusst – keine jedenfalls, die ihren Vater erreicht hätten. Die Scham hielt sie wieder fest im Griff, jene abgrundtiefe Scham, die ihr auch bislang den Mund verschlossen hatte.
Er musterte sie, kühl, beinahe abschätzig, als sei sie jemand, der seinen Frieden störte.
»Du trägst das Kleid der Oblaten?«, fragte er schließlich. »Kannst du mir verraten, was diese Maskerade soll?«
»Sie haben mir Unterschlupf in Santa Maria della Scala gewährt, als ich einen Platz zum Schlafen suchte und nicht wusste, wohin sonst ich mich wenden sollte.«
»Dein Platz ist im Haus von Lupo di Cecco. Er ist dein Mann vor Gott und der Welt. Es konnte dir doch damals nicht schnell genug gehen, oder hast du auch das vergessen?«
»Mein Mann? So einer wie er ist nicht mehr mein Mann!«
Erregt machte Gemma ein paar Schritte auf ihn zu, doch zu ihrem Erschrecken wich Bartolo zurück, als verströme sie üble Gerüche. Die Tür hinter ihm, die ins Kontor führte, stand halb offen. Gemma war, als wolle er sich am liebsten dorthin zurückziehen, anstatt ihre Gegenwart noch länger zu ertragen.
»Du musst wissen, er hat uns die ganze Zeit nur getäuscht«, fuhr sie fort, heftiger als zuvor, weil ihre Verzweiflung wuchs. »Uns alle, nicht nur mich. Ja, ich wollte ihn heiraten, aber ich war jung und unerfahren und wusste doch gar nicht, wer er wirklich war. Keiner von euch kennt sein wahres Gesicht, ich aber hab es gesehen, und ich kann dir versichern, kein Teufel könnte schlimmer …«
»Willst du mir das alles nicht lieber selber sagen?« Lupo hatte sich aus dem Schatten der Kontortür gelöst und stand plötzlich vor ihr. Sein Mund lächelte, die Augen aber waren kalt. »Also, was hast du auf dem Herzen, mein Engel?«
»Du? Hier?« Sie war wie erstarrt.
»Wo sonst sollte ich sein, nachdem mich die Sorgen um dich halb um den Verstand gebracht haben – und deinen alten Vater dazu? Meine geliebte Frau vom Erdboden verschwunden, und das seit Tagen! In meiner Fantasie habe ich mir schon die allerschlimmsten Szenen ausgemalt, habe dich verschleppt gesehen, geschändet, ja sogar tot. Aber zum Glück lebst du ja, bist zwar in seltsame Lumpen gekleidet, aber doch offenbar gesund und munter – der Madonna sei Dank!«
Bevor sie es verhindern konnte, war er schon bei ihr und drückte sie so fest an sich, dass sie kaum noch atmen konnte. Er roch nach Wein und Schweiß und nach einem fremden Weib, dessen billiges, süßliches Öl sie nicht zum ersten Mal wahrnahm. Vor allem aber stank er nach Lupo, was für sie das Allerschlimmste war. Stocksteif machte Gemma sich in dieser verhassten Umarmung.
»Lass mich sofort los!«, zischte sie. »Sonst schreie ich die ganze Straße zusammen.«
Zu ihrer Überraschung gehorchte er.
»Meine arme Kleine ist ganz durcheinander«, sagte er halb über die Schulter zu Bartolo, der alles schweigend beobachtet hatte. »Sie weiß ja kaum noch, was sie sagt, kein Wunder nach all diesen Schrecknissen! Aber macht Euch keine Sorgen, werter Schwiegervater, ich nehme sie jetzt erst einmal mit nach Hause, und dort werden wir schon …«
»Du nimmst mich nirgendwohin mit!«, sagte Gemma und war erleichtert darüber, wie fest ihre Stimme klang. »Niemals wieder!«
»Was soll das heißen?«, sagte Bartolo. »Bist du jetzt vollkommen kopflos geworden, Gemma?«
»Ich weigere mich, mit ihm zu gehen. Ich will zurück zu dir, zu meinen Schwestern. Ich möchte nach Hause!«
Sie sah, wie die beiden Männer vielsagende Blicke tauschten. Was hatten sie bereits hinter ihrem Rücken besprochen? In Gemma begann ein schlimmer Verdacht zu keimen.
»Was hat er dir erzählt? Dass
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