Die Sünderin von Siena
bis jetzt darauf gekommen!
»Der padrone heißt Lupo, nicht wahr? Lupo di Cecco. Er hat dich aus deinem Dorf geholt, als du noch ein Kind warst. Bei ihm hast du vor dem Apotheker gedient. Aber er ist für dich bis heute der padrone geblieben. Und Lupo war es auch, der dir die Morde befohlen hat.«
Sie drehte sich um, schlug mit der Faust an die Türe.
»Aufmachen!«, schrie sie. »Öffne auf der Stelle! Ich hab etwas herausgefunden, das alles verändert.«
»Hast du den Verstand verloren?«, herrschte der Richter sie an. »Was führst du dich hier so auf?«
»Ihr habt den Falschen eingesperrt. Lasst den Apotheker frei! Der Mörder heißt Lupo di Cecco und läuft noch immer frei herum!«
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Mit gerafften Röcken rannte Lina, so schnell sie nur konnte, durch die Gassen, um die dumpfe Luft des Kerkers hinter sich zu lassen, das fassungslose Gesicht des Richters, vor allem Leos leeren Blick.
Gemma musste alles erfahren!
Gemma, die bei den Kindern wachte und noch nicht ahnen konnte, was ihre Freundin inzwischen herausgefunden hatte.
Im Haus des Malers drang aus einem Fenster Licht. Lina zögerte kurz, dann blieb sie stehen und klopfte gegen die gewölbte Scheibe. Matteo, den Pinsel in der Hand, erkannte Lina, nickte und lächelte.
»Lass alles stehen und liegen!«, rief sie, als er an die Türe kam. »Wir müssen sofort zu Gemma!«
Er legte seine Utensilien auf einen Stuhl und folgte ihr.
»Es ist Lupo«, rief sie im Laufen. »Lupo, verstehst du? Ihr Mann steckt hinter all diesen schrecklichen Dingen. Und dieser Leo ist seine Kreatur.«
Der Schlüssel zitterte in ihrer Hand, so aufgeregt war sie.
»Gemma!«, rief sie, kaum hatten sie mit Matteo das Haus betreten. »Gemma, komm schnell herunter! Ich weiß jetzt, wer der Mörder ist! Es ist …«
Lelio kam ihr mit verweinten Augen entgegengelaufen.
»Sie ist weg!«, schluchzte er. »Gemma ist nicht mehr da. Nur noch das hier!« Er hielt Lina ein Haarnetz entgegen. »Das lag auf dem Boden. Wo ist meine Gemma?«
Matteo und Lina tauschten einen schnellen Blick.
»Er muss hier gewesen sein«, sagte Lina. »Er wusste, dass man Leo eingesperrt hat, und seine Zeit nun knapp wird. Irgendwann würde Leo reden. Sicher hat er Gemma geholt und in sein Haus gebracht. Bevor sie kommen, um ihn zu holen, wird er …«
»Sei still!«, rief Matteo. »Ich werde nicht zulassen, dass er ihr etwas antut. Ich bringe sie zurück. Nach Hause. In Sicherheit.« Er war schon an der Türe.
»Allein und unbewaffnet?«, rief Lina. »Wie willst du das anstellen? Dieser Mann kennt keine Skrupel und schreckt vor nichts zurück.« Sie rannte in die Küche, kam mit einem Messer zurück. »Nimm wenigstens das mit!«, sagte sie. »Ich werde loslaufen und Hilfe holen.«
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Jetzt erst kroch die Angst eiskalt in Gemma hoch, jetzt, während Lupo mit dem seltsamen Glasgefäß hantierte. Bei dem atemlosen Lauf durch die schlafende Stadt, wo sie ständig die kalte Klinge am Hals gespürt hatte, war es ihr noch gelungen, halbwegs ruhig zu bleiben.
Doch damit war es jetzt vorbei.
Vielleicht lag es an dem flackernden Blick, mit dem er sie immer wieder betrachtete. Vielleicht an den straff gezogenen Fesseln an Armen und Beinen, die sie so hilflos machten. Vielleicht aber auch daran, dass er das Zimmer mit Dutzenden von Kerzen erleuchtet hatte, als wäre es für ein großes Fest gerüstet. Er hatte sogar den Kamin mit Holz bestückt und ein kräftiges Feuer entfacht, als hätten sie einen kalten Herbstabend und keine warme Sommernacht.
»Was tust du da?«, sagte sie. »Was hast du vor?«
Vielleicht gelang es ihr, Zeit zu gewinnen, wenn sie ihn zum Reden brachte. Kostbare Zeit, die Lina nutzen konnte, um ihr zu Hilfe zu kommen. Sie konnte nur hoffen, dass die Freundin verstanden hatte, was das zurückgelassene Haarnetz auf dem Boden bedeutete, das einzige Zeichen, das sie in ihrer Not hatte hinterlassen können.
Aber konnte Lina dann auch wissen, wo sie sich befand?
»Wir werden uns vereinigen, tesoro «, erwiderte er, ohne sich in seinem Tun unterbrechen zu lassen. »Für eine lange, lange Zeit.«
Gemma sah, wie er in alten Schriften blätterte, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
»Was ist das?«, fragte sie. »Was sind das für Aufzeichnungen?«
Lupo warf den Kopf zurück und lachte.
Für einen Augenblick sah er wieder aus wie der Mann, an den sie einst ihr Herz verloren hatte, jung, fröhlich, ausgelassen, gesegnet mit einem wachen Verstand, der ihr besonders imponiert hatte.
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