Die Sünderin von Siena
entgegnete Lina langsam. »Hat sie endlich herausgefunden, dass du es warst, der sie so krank gemacht hat?«
Sein Gesicht verfärbte sich dunkel. »Wer hat dir davon erzählt?«, zischte er.
»Wer schon? Dein lieber Freund, Domherr Domenico Carsedoni. Oder sollte ich ihn lieber noch immer Franco nennen, wie damals in Pisa? Wie lang das alles doch her ist! Jetzt hat jeder von uns einen neuen Namen – und ein neues Leben.«
»Andere kannst du mit deinen schlecht gefärbten Haaren und deiner ehrenwerten Aufmachung vielleicht täuschen. Mich nicht, merk dir das! Ich hab dich sofort erkannt – und zurück in die Hölle gewünscht, in die du gehörst.«
»Ich täusche niemanden«, sagte sie. »Und mit der Hölle hab ich nichts mehr zu tun. Ich bin Mamma Lina und führe ein kleines Waisenhaus. Die Person, die einst La Salamandra war, ist tot und begraben.«
»Du spielst mit dem Feuer. Ein gefährliches Spiel, bei dem viele sich schon hässlich verbrannt haben.«
»Genug der Artigkeiten!« Lina ordnete abermals ihren Schleier. »Ich will, dass du mich zu diesem Leo bringst. Ich muss erfahren, weshalb er meine Kinder getötet hat, sonst werde ich niemals Ruhe finden.«
»Selbst, wenn ich wollte, wie stellst du dir das vor? Er sitzt im Kerker des Hospitals und kann keinen Besuch erhalten.«
»Du wirst mich zu ihm bringen – sofort.« Linas Stimme klang fest.
Enea machte einen Schritt auf sie zu. »Ich könnte dich auf der Stelle festnehmen lassen«, sagte er. »Das weißt du. Und du weißt auch, was dich dann erwartet.«
»Nichts anderes als dich – und deine Kumpane. Einer von ihnen sitzt bereits im Kerker. Ihr beiden könntet ihm dort sehr bald Gesellschaft leisten, bevor ihr zum Richtplatz geführt werdet.« Kein Muskel zuckte in Linas Gesicht, nur die großen hellen Augen sprühten Blitze.
»Was willst du von mir?«, wiederholte Enea zornig.
»Bist du taub? Ich möchte mit Leo sprechen. Körperlich ist er ein Riese, im Geiste aber ein kleines Kind. Er kann nicht selbstständig gehandelt haben. Also muss jemand ihn angeleitet haben. Ich möchte wissen, wer oder was dahintersteckt. Das ist mein gutes Recht. Also?«
Enea di Nero zögerte noch immer.
»Den Tod fürchte ich nicht«, fügte Lina hinzu. »Damit kannst du mich nicht schrecken. Aber für einen frisch gekürten Ratsherren wie dich wäre vielleicht …«
»Spar dir weitere Reden!«, unterbrach er sie schroff. »Wir gehen. Aber meine Bedingung ist, dass du weiterhin den Mund hältst.«
»Von mir hat bislang keine Menschenseele ein Sterbenswörtchen erfahren«, erwiderte sie. »Und das kann auch so bleiben – vorausgesetzt, du erfüllst meine Forderung.«
❦
Es gelang Gemma nicht, sich von Angelinas Bettchen zu lösen, obwohl die Kleine schon eine ganze Weile tief schlief. Sie lag auf dem Rücken, die Ärmchen angewinkelt, das Leintuch halb weggestrampelt, weil die Sommernacht warm war. Ab und zu kamen kleine Schnarchtöne aus ihrem Mund. Dann kräuselte sich ihre Nase, und auf der Stirn erschien eine angestrengte Falte.
»Du gehörst jetzt zu uns«, sagte Gemma leise und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Am liebsten würde ich dich auf der Stelle mitnehmen. Aber Vater muss dich erst noch Lavinia gestehen. Ich hoffe nur, er lässt sich nicht mehr allzu viel Zeit damit.«
Nebenan schliefen Lelio und Raffi, und Mia, die bislang stets allein bleiben wollte, hatte gestern ihr Bett zu ihnen gestellt. Die schrecklichen Erlebisse der letzten Zeit hatten die Kinder noch enger zusammenrücken lassen. Und dennoch ertappte Gemma sich immer öfter bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn künftig nicht nur Angelina, sondern auch der kluge Junge mit den Segelohren bei ihr leben könnte.
Sie streckte sich, weil ihr seit den Tagen im Kerker immer wieder der Rücken wehtat, und begann herzhaft zu gähnen. Danach löste sie ihr Haarnetz und schüttelte den Kopf, um sich freier zu fühlen. In diesem Augenblick hörte sie gedämpfte Schritte auf der Treppe. War Lina schon zurück?
Sie erhob sich, um ihr entgegenzugehen. Als sie die Türe öffnete, stand Lupo vor ihr.
»Kein Laut!«, sagte er. Gemma sah den gekrümmten Dolch in seiner Hand, den er auf ihre Halsgrube gerichtet hatte. »Die Klinge ist mit Blut gehärtet und so scharf, dass ich dir in einem Zug die Kehle durchschneiden könnte – oder einem von ihnen.«
Sie sah, wie er zu Angelina äugte, und ließ die Türe zufallen.
»Du wirst ihnen nichts antun«, sagte sie. »Keinem von ihnen,
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