Die Sünderin von Siena
ihrer Anhängerinnen traf. »Du hast mir ganz aus dem Herzen gesprochen!«
»Ich hoffe nur, du kommst morgen wieder zum Unterricht«, sagte Caterina. »Ich zähle auf dich. Dann kann ich bald schon meine eigenen Briefe verfassen.«
»Ich werde da sein, Caterina, solange du mich brauchst.«
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Der Aufruf der frommen Frau war zu spät gekommen. Im Morgengrauen entdeckten zwei Männer Barnas, dass das Tor zum ehemaligen Palazzo der Salimbeni offen stand. Im Hof fanden sie den leblosen Prediger in einer Lache zerbrochener Eier, die bereits zu faulen begannen. Neben seinem Kopf lag ein Pflasterstein. Seine Augen waren gebrochen. Ratten hatten sich an seinen Waden zu schaffen gemacht.
Sie verscharrten ihn außerhalb der Stadtmauer in einem namenlosen Grab, dort, wo auch die Mörder unter die Erde kamen. Seine Engel waren und blieben spurlos verschwunden, ein Spuk, der Siena niemals mehr heimsuchen sollte.
Eine Woche später kamen die Truppen des Kaisers aus Rimini und setzten die neue Regierung ab. Es hieß, Vertreter der Familie Salimbeni hätten dabei ihre Hand im Spiel gehabt.
Historisches Nachwort
E ine Stadt zwischen Mittelalter und Renaissance, zwi
schen wirtschaftlichem und kulturellem Aufschwung und den Abgründen der großen Pest. An kaum einem anderen Ort, in kaum einer anderen Zeit kulminierten Entwicklungen wie hier. Die Siedlung römischen Ursprungs hatte besonders seit dem 10. Jahrhundert ein starkes Wachstum erlebt. Die Siedlungen der drei Hügel – Camollia, San Martino, Città –, aus denen Siena noch heute besteht, wuchsen zusammen. Bereits im
12. Jahrhundert war der Stadt durch Friedrich Barbarossa ein eigenes Münzrecht und eine eigene Gerichtsbarkeit zugestanden worden, Voraussetzungen dafür, eine freie Stadt zu werden (1236). Stadtmauern wurden gebaut, in immer weiteren Ringen. Nachdem die Sienesen im Jahr
1260 ihren stärksten Gegner, die Stadt Florenz, in der Schlacht von Monteaperti besiegt hatten, stand einer Blüte nichts mehr im Wege: In der kaisertreuen Stadt entwickelte sich eine fast modern anmutende Demokratie, die ihren glorreichen Ausdruck in der »Regierung der Neun« fand.
Von 1287–1355 bescherte diese Siena Frieden und unter dem Motto: beltà, armonia e onore della repubblica – Schönheit, Harmonie und Ehre der Republik – eine städte bauliche Entwicklung, deren Folgen die Besucher noch heute bewundern können. Vorrangiges Baumaterial war der rote Backstein, gebrannt aus der lehmigen Erde der südlich sich erstreckenden Crete, aber je reicher die Stadt wurde, desto öfter verwendete man auch wertvolles Gestein und weißen oder schwarzen Marmor.
Zentrales Zeugnis für die politische Entwicklung war der Palazzo Pubblico, das monumentale Rathaus, ein wahrer Palast der weltlichen Macht. Obwohl sein Turm, der Torre del Mangia, neben dem Rathaus am tiefsten Punkt der Stadt steht, musste er so hoch gebaut werden, dass er mit dem des Domes konkurrieren konnte. 102 Meter hoch wurde er, aber keinen Zentimeter höher und somit genauso hoch wie der Glockenturm des Domes, mit dem die geistliche Macht sich am höchsten Punkt der Stadt ein Zeichen gesetzt hatte.
Im Innern des Rathauses fertigte Ambrogio Lorenzetti seine berühmten Fresken zu Ehren der Stadtregierung, auf denen er die sichtbaren Folgen der »guten Regierung« denen einer »schlechten« anschaulich gegenüberstellte: frühe Zeugnisse einer selbstbewussten weltlichen Malerei, die Aufschluss geben über das alltägliche Leben der Zeit – im Guten wie im Bösen.
Auch der muschelförmige Campo, der sich vor dem Rathaus erstreckt, erlangte seine heutige, mit rotem Backstein gepflasterte Form unter der »Regierung der Neun«. Er war Treffpunkt der Bürger aller drei Stadtteile, die hier auch ihre bunten Feste und Kampfspiele austrugen – bis Letztere im Jahr 1325, nachdem es bei dem traditionellen Faustkampf der Bewohner der Stadtteile zu mehreren Toten gekommen war, verboten wurden. Weiterhin jedoch inszenierte die Bevölkerung bunte Aufmärsche und Prozessionen, speziell am 15. August, dem Tag der Schutzherrin Sienas, der Muttergottes.
Schmuckstück des Platzes wurde die Fonte Gaia, der erste Trinkwasserbrunnen mitten in der Stadt. Ein 25 Kilometer langes unterirdisches Kanalsystem garantierte die Versorgung der wasserarmen Stadt – ein wahrer Segen für die Bevölkerung –, und seine Einweihung wurde im Jahr
1346 entsprechend gefeiert. Von 1408–1411 wurde der Brunnen von Iacopo della Quercia verziert,
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