Die Sünderin von Siena
Hälfte der Bevölkerung kam mit dem Leben davon. Unter den Überlebenden war ein kleines Mädchen, Caterina Benincasa, 25. Kind eines Färbers, geboren 1347. Es ist die spä
tere heilige Katharina von Siena, Schutzpatronin der Stadt und des Landes. Als Kind schon spürte sie ihre Berufung, suchte den Kontakt mit den Dominikanermönchen und in der Einsamkeit die Nähe zu Jesus, ihrem mystischen Bräutigam. Als junge Frau beeinflusste sie die große Politik ihrer Zeit, indem es ihr durch unzählige Briefe und Besuche gelang, den im Exil lebenden Papst Gregor XI. aus Avignon auf den Heiligen Stuhl nach Rom zurückzurufen.
Das Klima im Siena jener Zeit war stark beeinflusst von religiösen Fragen und Bewegungen. Bettelmönche und Wanderprediger in der Tradition des heiligen Franziskus prägten das Stadtbild. Caterina starb im Jahr 1380. Im selben Jahr wurde San Bernardino geboren. Seine täglichen Predigten, in denen er weltlichen Besitz und irdisches Streben verurteilte und zum wahren Glauben aufrief, gehörten ebenso zu Siena wie die ausschweifenden Bankette und Festgelage der reichen Kaufleute. Hier memento mori, dort carpe diem – über allem Denken und Handeln lag das Trauma der Pest, die Angst vor dem Schwarzen Tod, der jederzeit wiederkehren konnte.
Zwanzig Jahre später, der Zeitraum, in dem mein Roman angesiedelt ist, hat sich Siena halbwegs wieder von dieser Katastrophe erholt, die aber dennoch im Bewusstsein der Überlebenden ständig mitschwingt. In der Stadt herrscht ein Klima der allgemeinen Unzufriedenheit mit dem »Rat der Zwölf«, der von reichen Kaufleuten und ein paar aufgestiegenen Handwerkern, vor allem aus dem Weber- und Färbermilieu, gestellt wird. Die Adligen fühlen sich von dieser Regierung entmachtet; das niedere Volk, zu dem viele Handwerksverbände, interessanterweise aber auch Richter und Notare gezählt werden, klagt ebenfalls seine Rechte ein. Besonders die Familie Salimbeni steht Kaiser Karl IV. nahe und versucht, mit seiner Hilfe einen Umsturz herbeizuführen. Eine erste Verschwörung im Frühjahr 1368 (im Roman nur angedeutet) wird aufgedeckt, aber am 2. September 1368 gelingt es dann den Verschwörern, die Stadtregierung aus dem Palazzo Pubblico zu vertreiben. Die neue Regierung rekrutiert sich aus Adligen und Volksvertretern.
Schon drei Wochen später wird diese Regierung allerdings gestürzt: 800 Reiter der Malatesti aus Rimini erstürmen die Stadt und setzen die neue Regierung wieder ab. Darauf verlassen viele der adligen Familien für einige Jahrzehnte Siena und siedeln sich auf ihren Landgütern an.
Ein permanenter »Rat der Reformatoren« wird gegründet, in dem das Volk mit über 60 Vertretern fast zur Hälfte beteiligt ist. Auch in der Stadtregierung sind 5 der 7 Vertreter aus dem Volk. Als großer Sieger der gesamten Aktion geht die Familie Salimbeni hervor, die Immunität und zahlreiche Schlösser und Burgen vom Kaiser verliehen bekommt.
Am 22. Dezember 1368 zieht Kaiser Karl IV. mit 2400 Reitern als Gast der Salimbeni in Siena ein.
Dichtung und Wahrheit
REVOLTE UND PALIO
Ich habe mir erlaubt, diesen Aufstand etwas vorzuverlegen, und zwar auf den 16. August 1368, den Tag, an dem auch schon im 14. Jahrhundert der Palio zu Ehren der Muttergottes abgehalten wurde, die ja Stadtpatronin von Siena war und ist. Diese Wahl habe ich aus dramaturgischen Gründen getroffen – was könnte spannender sein, als das Zusammenfallen dieser Ereignisse an einem einzigen Tag?
Allerdings gab es damals noch nicht den Palio auf dem Campo (verschiedene Quellen legen seinen Beginn in die Zeitspanne zwischen 1583 und 1632), der noch heute Tausende von Neugierigen aus aller Welt anzieht, aber auch für die Bewohner Sienas das Ereignis des Jahres darstellt. (Inzwischen feiert man noch einen Palio am 3. Juli, ebenfalls mit Bezug zur Marienverehrung.)
Im 14. Jahrhundert gab es den palio alle lungha , der von einem Startpunkt an/vor den Stadtmauern durch die engen Gassen der Stadt führte und auf dem Domplatz endete. Nicht geklärt ist, wie viele der Contraden daran teilnehmen konnten, ja nicht einmal, wie viele Contraden es im Mittelalter überhaupt gab. Manche Autoren sprechen von über 80. Ich habe mich in meinen Angaben an die bemerkenswerte Dissertation von AnnaKathrin Warner gehalten (siehe auch meine Literaturempfehlungen) und bin bei der auch schon stattlichen Zahl von 17 Contraden geblieben, wie wir sie noch heute kennen.
BERNARDOS ENGEL
Bernardos Engel haben Siena niemals
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