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Die Sünderin von Siena

Die Sünderin von Siena

Titel: Die Sünderin von Siena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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schon damals auch – keinen anderen Ausweg. Er bekreuzigte sich. Danach zeichnete er das heilige Symbol der Dreieinigkeit auf die Stirn, den Mund und die Brust des Jungen.
    Spätestens jetzt war er machtlos gegen die Bilder seines toten Sohnes, die abermals in ihm emporstiegen.
    »Das ist ein Gottesdienst«, flüsterte er. »Und ich gelobe, ihn in Demut und Hingabe zu zelebrieren. Du bist für mich der Bruder meines geliebten Giuseppe, kleiner Mauro. Vielleicht begegnet ihr euch ja im ewigen Reich Gottes.«
    Von damals wusste er noch, was an Werkzeugen notwendig war, doch zuerst musste er den Kleinen entkleiden. Es war schwieriger, als er angenommen hatte, denn die Totenstarre hatte bereits vollständig eingesetzt, und Mauro war steif wie ein Brett. Glücklicherweise hatten sie ihn in ein Hemd gekleidet, das am Rücken offen war und sich daher verhältnismäßig einfach abstreifen ließ.
    Sobald der Kleine nackt war, untersuchte er ihn eingehend. So nah er sein Licht auch an ihm entlangführte, er konnte nichts Auffälliges entdecken – bis auf einen Bluterguss an der rechten Hand, der ihm nicht aufgefallen war, als er den Jungen am Brunnen gefunden hatte. Ein eigenwilliger Geruch ging von dem Toten aus, der Matteo lebhaft an im Wasser verfaulende Blumen erinnerte, aber glücklicherweise keinerlei Ekel in ihm auslöste.
    So enden wir alle, dachte er. Ausnahmslos. Der Tod ist das letzte Geheimnis, das uns Menschen miteinander verbindet.
    Er musste ihn streicheln, er konnte nicht anders. Mauros Haut fühlte sich ganz anders an als bei einem lebendigen Kind, sie war spröde und spannungslos, als sei jede Flüssigkeit aus ihr verschwunden. Als Matteo den Leichnam am rechten Arm zog, eher aus Zufall als aus Überlegung, bildete sich eine steile Falte, die nicht mehr verschwinden wollte.
    Er zog auch am linken Arm, dann am Bein: gleiches Resultat. Die Haut schmiegte sich nicht mehr wie zuvor um die Knochen und Muskeln, sondern blieb leicht erhöht stehen, was Matteo ausgesprochen seltsam erschien. Bei einem alten Menschen mochte das so sein, aber bei einem kleinen Kind?
    Was jedoch hatte es zu bedeuten? Und war das bei Giuseppe ähnlich gewesen? Matteo begann sein Hirn zu martern, doch jene Nacht der Schrecken und Schmerzen lag viel zu lange zurück, als dass er sich noch hätte genauer erinnern können. Vielleicht hatte er damals gar nicht darauf geachtet.
    Möglicherweise würde der Rücken mehr Aufschlüsse bringen. Behutsam drehte Matteo den Kleinen um. Dunkle Flecken unter Aussparung der Liegeflächen an Schulterblatt und Gesäß. Ähnliches hatte er auch damals bei Giuseppe und Fiona entdeckt. Dieses Mal war er sich ganz sicher.
    An das Liebste, das er verloren hatte, in diesem Augenblick zu denken, ließ ihm die Augen feucht werden. Für dich, Fiona, meine Liebste, dachte er. Für dich, Giuseppe, mein Sohn, der mich viel zu früh verlassen hat. Für dich, Gemma, Königin meines Herzens.
    Und für dich, mein armer, kleiner toter Mauro!
    Er wartete, bis sein Atem wieder ruhiger ging, und
    drehte den Kleinen zurück in die Ausgangsposition. Dann griff er in seinen Korb, zog unter den Tüchern das scharfe Messer hervor. Und während seine Lippen die Worte des Vaterunsers flüsterten, setzte er das Messer an den kleinen Körper, um mit erstaunlich ruhiger Hand den ersten Einschnitt zu wagen, von der Brust hinab bis in die Leistengegend.

    Sechs

    M orgensonne fiel durch das geöffnete Fenster und kit
    zelte Gemmas Nase, doch sie hielt die Lider fest geschlossen, um das Aufwachen noch länger hinauszuzögern. Für ein paar köstliche Augenblicke schien alles so wie früher: geschäftiges Treppauf, Treppab, von unten aus der Küche das verheißungsvolle Klappern des Geschirrs, untermalt vom schrillen Trällern der Magd, das auch im Lauf langer Jahre kein bisschen melodischer geworden war. Jetzt fehlten nur noch die weichen Lippen der Mutter, die sie jeden Morgen mit einem Kuss geweckt hatte, und der zarte Magnolienduft, den sie bis heute mit der Verstorbenen verband.
    Kurz darauf hörte sie Teresa maulen, die partout ein anderes Kleid anziehen wollte, danach setzte Lavinias gewohntes Gekeife ein, während Nonna Vanozzas Stock im vertrauten Rhythmus die Stufen hinunterpochte und die kleine Lucia jeden ihrer schwerfälligen Schritte mit fröhlichem Geplapper begleitete – die Wirklichkeit hatte Gemma zurück! Sie zog sich die Decke über den Kopf und rollte sich auf die andere Seite. Dennoch schien in diesem lichtblauen

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