Die Sünderin von Siena
hast mir schon einmal sehr geholfen, Celestina«, sagte er, »damals, als mein Sohn gestorben war. Heute muss ich dich abermals um deine Hilfe bitten.«
»Du musst den Verstand verloren haben!«, flüsterte sie erschrocken. »Das kann nicht dein Ernst sein, Matteo! Schon damals war es eine Bitte zu viel. Anstatt dich so zu verhalten, wie ich es dir geraten habe, verlangst du …«
»Lass mich zu dem Kleinen!«, bat Matteo. »Ich muss herausfinden, was ihn getötet hat – bitte!«
»Das kann ich nicht. Geh, Matteo, geh sofort!«
»Doch, du kannst. Du musst sogar! Wie sollen wir alle sonst jemals Ruhe finden?«, widersprach er.
Sie kam ihm ganz nah. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie wohl schon am Schlafengehen gewesen war. Er sah die Konturen ihres Körpers durch das dünne Leinen, die vollen Brüste, die dunkleren Spitzen. Ein schwacher süßlicher Duft stieg in seine Nase. Wieder klirrten die Schlüssel, als sie sich bewegte.
»Ihretwegen?«, flüsterte Celestina. »Und wenn du mich jetzt anlügst, dann verlässt du das Hospital auf der Stelle!«
»Auch«, sagte er, »aber nicht nur. Ich bin auf der Suche nach einer Antwort. Ich kann nicht anders!«
»Die hast du schon einmal gesucht – und bist doch nur enttäuscht worden.«
»Das ist richtig, aber ich muss es noch einmal probie ren. Vielleicht liegen die Dinge dieses Mal anders«, sagte er. »Wenn ja, geht es darum, einen Mörder dingfest zu machen.«
»Und wenn sie uns erwischen?«, sagte Celestina. »Mich? Oder dich? Denn was du tust, hinterlässt …« Er hörte, wie sie schluckte. »… erhebliche Spuren. Wie stellst du dir das eigentlich vor?«
»Du bist es doch, die ihn wäscht und in sein Totenhemdchen kleidet. Solange du den Mund hältst, wird niemand etwas erfahren.«
Celestina wandte sich ab, und er glaubte schon, er habe verloren. Dann jedoch drehte sie sich jäh wieder um.
»Einverstanden«, sagte sie. »Allerdings nur unter einer Bedingung.«
Matteo nickte ungeduldig.
»Ich will deine Frau sein.« Im ersten Augenblick glaubte er, sich verhört zu haben. Langsam wurde ihm bewusst, was sie verlangte. »Wenigstens ein einziges Mal. Du kannst die Augen schließen und dir vorstellen, ich wäre sie, das soll mir gleichgültig sein, aber du wirst mich in den Armen halten. Eine ganze Nacht lang – vom Einbruch der Dämmerung bis zum Morgengrauen.«
Sie legte die Hand auf seinen Arm und schob sie bis über die Beuge des Ellenbogens hinauf. Da legte er seine Hand auf ihre und hielt sie fest.
»Also?« Ihre Stimme zitterte leicht.
»Einverstanden.« Hatte er das tatsächlich gesagt? In seinen Ohren war auf einmal ein Brausen, und alles erschien ihm wie ein finsterer Traum.
»Dann komm!«
Sie ging ihm die vielen Stufen abwärts voran, plötzlich leichtfüßig wie ein junges Mädchen. Matteo folgte ihr beklommen. Vor der Tür des Eiskellers blieb sie stehen, zog einen Schlüssel heraus und sperrte auf.
»Du hast ausreichend Licht mitgebracht?«, fragte sie.
»Meine Wachsstöcke brennen ungefähr sechs Stunden«, erwiderte er, während er diese aus dem Korb holte und darauf wartete, dass Celestina die Dochte nacheinander mit ihrer Lampe entzündete. »Das weiß ich vom Malen.«
»Gut«, sagte sie. »Denn bevor es dämmert, musst du verschwunden sein. Der Tag in Santa Maria della Scala beginnt sehr früh. Und dir ist klar, was es bedeutet, würde dich jemand hier zu Gesicht bekommen.« Ihr Blick wurde weicher. »Die allerheiligste Muttergottes steh dir bei!«, fuhr sie fort. »Du wirst ihre Hilfe dringend brauchen können, Matteo!«
»Augenblick noch!«, rief er, als sie sich zum Gehen wandte. »Wo finde ich Wasser?«
»Im Vorraum stehen mehrere Eimer. Damit musst du auskommen.«
Er wartete, bis sie draußen war, dann erst wagte er, sich dem Toten zu nähern. Der kleine Körper schien unter dem Tuch fast zu verschwinden. Matteo fröstelte, und es lag weder an der Kälte in dem Raum, der tief unter der Erde lag, noch an den säuberlich zwischen Strohlagen aufgeschichteten Eisbarren entlang der Wände, Vorrat für einen langen, heißen Sommer.
Behutsam zog Matteo das Tuch herunter.
Wie eine Puppe lag der Junge vor ihm, auf merkwürdige Weise unbeseelt. Vor Kurzem noch hatte er ihn lachen und spielen gesehen. Jetzt jedoch war Mauro reglos, eine fleischliche Hülle, aus der alles Leben gewichen war.
Aber durfte er sich tatsächlich an ihm zu schaffen machen?
Die schlimmsten Strafen drohten seinem Vorhaben, und dennoch wusste er – wie
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