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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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Furth-Nord. Wie heißt sie? Es macht ihn verrückt, wenn ihm Dinge verloren gehen. Namen zum Beispiel. Die Kleine trägt niedrige Stiefel mit einem gefleckten Pelzkragen. Der Ministrantenkittel ist ihr zu kurz.
    Mein Sohn heißt Jakob, denkt er, er ist fünf Jahre alt. Meine Frau heißt Sophie und arbeitet als Apothekenhelferin. Diese Namen habe ich noch nie verloren. Sie werden kommen und ich werde sie vom Bahnhof abholen. Aber erst, wenn es wärmer ist.
    Denn am Abend, da er verraten wurde, nahm er das Brot, sagte Dank und reichte es seinen Jüngern.
    Er hebt die Hostie in die Höhe und muss in diesem Moment wie immer an Padre Pio denken, daran, dass während der Wandlung angeblich seine Wundmale aufbrachen und Blut in die Verbände sickerte. Die Weinbergers haben mit Sicherheit ein Bild von ihm zu Hause hängen, über dem Essplatz oder über dem Ehebett. Dieses bigotte, eitle, unendlich selbstbezogene Kapuzinerpatergesicht, das dir in den Suppenteller schaut, denkt er, oder auf die eheliche Pflicht.
    Danach nahm er den Kelch mit Wein, sagte Dank und reichte ihn seinen Jüngern.
    Er stellt sich vor, wie oben auf der Orgelempore eine dunkle Gestalt auftaucht, eine Laserkanone auf den Padre richtet und ihm Löcher in die Hände und Füße brennt, dorthin, wo sie vorher nur aufgemalt waren. Dann schwenkt sie den Lauf ein bisschen nach oben und schmilzt ihm den Kopf weg.
    Ich muss das hier rasch zu Ende bringen, denkt er, danach muss ich eine Tablette nehmen und mich bewegen. Dann lege ich mich hin.
    Kniebeuge. Geheimnis des Glaubens. Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, Deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit. Warten. Durchatmen. Manchmal gelangt er an einen Punkt, an dem er Kommandos braucht.
    Weihnachten ist eine heikle Zeit.
    Er sieht sich am Friedhof vorüberlaufen, unter der Bahn hindurch, das Sägewerk entlang. Er spürt das Knirschen von Kies unter seinen Sohlen. Das Flimmern von Fernsehapparaten in den Fenstern der Häuser. Einen Moment lang schaut er in ein aufgeblendetes Scheinwerferpaar. Danach hängen ihm für eine Weile die negativen Nachbilder im Auge. Er ist jetzt sicher, dass es in jener Nacht bewölkt war. Kein Mond. Keine Sterne.
    Davor, am zweiten Weihnachtsfeiertag, der Besuch bei Mutter und Schwester. Beide von einer unfasslichen Einfalt. Das fette Essen, die ewig gleichen Sätze. Dass mein Vater damals verschwunden ist, verstehe ich gut; es hat mit mir nichts zu tun, denkt er.
    Sein iPod liegt in der Sakristei. Ein einziges Mal hat er während des Zelebrierens der Messe tatsächlich Musik gehört. Es muss vor etwas mehr als drei Jahren gewesen sein. Danach zwang ihn Clemens, an die Klinik nach Graz zu gehen.
    Es gibt einige komische Dinge in meinem Leben, denkt er: Mein Vater ist von einem Tag auf den anderen verschwunden und hat sich nie wieder gemeldet. Ich bin in einen Orden eingetreten, weil ich drauf und dran war, in tausend Stücke zu zerfallen. Ich zerfalle trotzdem immer wieder in tausend Stücke. Ich bin insgeheim der Überzeugung, dass Bob Dylan der wiedergeborene Jesus Christus ist.
    Nach dem Vaterunser reicht er der Ministrantin die Hand zum Friedensgruß. Ihre Finger sind rundlich und warm. Sie heißt Renate, jetzt weiß er es wieder.
    Die junge Frau rechts hinten steht alleine da. Keiner geht auf sie zu. Sie tut ihm leid. Eigentlich möchte er sie in den Arm nehmen. Er möchte auf sie zugehen, sie in den Arm nehmen und ihr von Sophie und Jakob erzählen.
    Seht das Lamm Gottes. Es nimmt hinweg die Sünden der Welt.
    Die Weinbergers kommen nach vorn zur Kommunion, natürlich, die alte Kocic auch, am Ende Josephine Martin, eine philippinische Krankenschwester, die mehrmals pro Woche in die Messe geht, weil ihr Mann sie prügelt und sie sich dafür schuldig fühlt. Frau Weinberger reißt den Mund weit auf. Sie würde niemals eine Hostie in die Hand nehmen. Ihre Zunge ist gelblich belegt, so, als hätte sie Angina.
    Die Hostie, einen Schluck vom Wein. Den Rand des Kelches abwischen. Den Kelch abdecken. Rituale halten einen zusammen. Und die Regel. Der die Gedankenbrut zerschmettert.
    Während er die Segensformel spricht, merkt er die Veränderung. Im Kirchenschiff befinden sich jetzt zwölf Leute. Rechts hinten, ganz in der Nähe der jungen Frau, steht eine schmale Gestalt mit einem blauen Stirnband über dem blonden Haar. Es ist Björn.

Sechs
    Der Sessel, auf dem sie saß, war winzig. Er dachte das, seit er sie kannte. Ein uralter, rotbraun gebeizter Bugholzstuhl

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