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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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beschmieren. »Nichts war«, sagte er.
    »Was heißt: Nichts war?«
    »Nichts. Gar nichts. Null.«
    »Sie ist nicht gekommen?«
    »Doch, sie ist schon gekommen. Ihre Mutter hat sie gebracht, wie vereinbart.« Er legte eine schmale Schnitte Blue Stilton auf die bebutterte Semmelhälfte und biss ab. Beim Samstagsfrühstück gebe es den Zeitungstyp und den Gesprächstyp, behauptete er immer wieder, außerdem den Schimmelkäsetyp und den Honigtyp. Zeitung und Schimmelkäse finde man in der Regel als Kombination, Honig und Gespräch ebenfalls. Irene sagte dann meistens nur: »Trottel.«
    »Was heißt dann, es war nichts? – Sie hat gebrüllt wie beim Erstkontakt? Oder wurdest du zu einem Notfall gerufen?«
    Horn spürte leisen Unmut aufsteigen, wie immer, wenn Irenes Neugier penetrant zu werden begann. Ich muss hinaus, dachte er, sonst kommen wir ins Streiten, trotz der Nähe von vorhin. »Nein«, sagte er, »sie hat sich hingesetzt und einfach nichts gesprochen.«
    »Eine ganze Stunde lang?«
    »Eine ganze Stunde lang.«
    »Und was hast du gemacht?«
    »Gewartet. Ich habe gewartet, sonst nichts.«
    Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Was hat das dann gebracht?«
    »Nichts«, sagte er, »gar nichts hat das gebracht.« Sie zog die Stirne kraus und wies mit dem Zeigefinger auf ihn. »Ich glaube dir kein Wort, Mister Analytiker«, sagte sie, »sonst behauptest du immer, in der Therapie gibt es nichts Produktiveres als Schweigen, und plötzlich soll es anders sein?!«
    »Nix ist fix bei uns Psychos.« Er tunkte ein Stück Semmel in den Honig und hielt es ihr hin. Sie nahm es vorsichtig mit den Lippen. Am Ende biss sie ihn in den Finger. »Nach dem Frühstück noch einmal?«, fragte er überrascht. Sie lachte und schüttelte den Kopf.
    Irene Horn ließ ihren Mann knapp nach dem großen Kreisverkehr aussteigen und fuhr weiter in Richtung Zentrum. Sie hatten vereinbart, sich eineinhalb Stunden später im Stiftscafé zu treffen.
    Horn ging erst die Severinstraße ein paar hundert Meter nach Süden, zweigte dann nach Osten ab. Der Himmel war wolkenlos, die Sonne stand inzwischen halbhoch und im Hintergrund strahlten über der Stadt die Gipfel der Kalkalpen. Der Gehsteig entlang der Reihenhaussiedlung war zwar geräumt, doch nicht kiesbestreut. Der Restschnee knirschte unter seinen Füßen.
    Das Mädchen war in Pelzstiefeln und einer dunkelgrünen Steppjacke mit Eichhörnchen hinten drauf in die Stunde gekommen. Es hatte sich mit dem Rücken zur Wand hingestellt und war zuerst zehn Minuten lang vollkommen reglos dagestanden. Dann hatte es begonnen, sich langsam die Wand entlang zu bewegen. Dabei hatte es ihn nicht aus den Augen gelassen.
    Er hatte schon nach einer kurzen Weile angefangen zu reden, ganz gegen seine Gewohnheit. Entängstigen, hatte er gedacht, du musst ihr möglichst rasch die Angst nehmen. »Beim letzten Mal war alles ziemlich aufregend«, hatte er gesagt, »die Sanitäter und das Rettungsauto, davor die Polizei und die anderen fremden Menschen.« Das Mädchen war an der Wand weitergeglitten, vorüber am Spielzeugregal, bis hin zum schmalen Kleiderschrank. Dort hatte es sich auf den Boden gesetzt, die Knie an den Körper gezogen, die Arme herumgeschlungen. Die rechte Hand war zur Faust geballt gewesen. »Du hast immer noch dieses Geheimnis in deiner Hand, oder?«, hatte er gesagt und das Mädchen hatte keine Miene verzogen. Er hatte gesprochen, geschwiegen, mit den Handpuppen herumgespielt. Der Polizist hatte das Krokodil abgemahnt, weil es den anderen immer alles wegfraß, und die Hexe hatte schadenfroh gelacht. Das Mädchen hatte durch die Figuren hindurchgeschaut, den Blick über seinen Schreibtisch gleiten lassen, über die Bilder an der Wand, über das Bücherregal. Zwischendurch hatte es ihn immer wieder genau gemustert, von oben bis unten. Er hatte davon gesprochen, dass der Tod meistens eine unbegreifliche Angelegenheit war, und davon, dass manche Kinder nette Großeltern hatten und manche nicht. Er hatte sich die ganze Zeit über hilflos und überflüssig gefühlt. Als er schließlich gesagt hatte: »Unsere Zeit ist zu Ende«, war das Mädchen aufgestanden. Für einige Sekunden hatte es aus dem Fenster geschaut, auf den Fluss, den Schilfstreifen und den See. »Ich frag mich, ob du eigentlich schwimmen kannst«, hatte er gesagt, und es war ihm im selben Augenblick ziemlich blöd vorgekommen. Es war schließlich Winter, bei den herrschenden Bedingungen würde der See demnächst doch zufrieren und die Väter

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