Die Süße Des Lebens
vor und wie vielleicht ein Stück Zahnprothese herausragt.
Ich setze den blauen Wagen mit dem weißen Stern in die dritte Spur und nehme den Controller dazu in die linke Hand. Ich bin ein hoffnungsloser Rechtshänder, daher dauert es genau eine halbe Runde, bis es den Blauen raushaut. Da er mein Lieblingsauto ist, werde ich ein wenig zornig. Autos rein, Vollgas, zack! Salto mortale! Noch einmal. Und noch einmal.
Dann steht Daniel in der Tür. Er hat die Kapuze von seinem grauen Pulli in die Stirn gezogen. Das hat er sich in letzter Zeit so angewöhnt. Er geht auf mich zu und knallt mir eine. Es ist o.k.; ich hab vermutlich einen Höllenlärm gemacht. »Hast du den Artikel gelesen?«, fragt er. »Ja«, sage ich.
»Hast du dir alles eingeprägt?«
»Ich denke, schon.«
Er knallt mir noch eine, eine leichte diesmal. »Ich bin dein Imperator«, sagt er, »und du bist mein Geschöpf.«
Ich sage gar nichts. Ich atme wie Darth Vader.
Fünf
Im Hauptschiff sitzen elf Leute. Er erfasst es mit einem Blick. Das ist eine seiner Stärken. Manchmal muss er sich seine Stärken systematisch vor Augen führen: Ich merke mir gut Dinge auswendig, ich kann quadratische Gleichungen im Kopf lösen, ich erfasse die Zahl von Menschen mit einem Blick, ich laufe einen Marathon in knapp drei Stunden.
In der zweiten Reihe das Ehepaar Weinberger, jenseits des Mittelganges die alte Kocic, dahinter Frau Ettl, die Wirtschaftshelferin, neben ihr Irma. Die beiden sind befreundet. Rechts hinten sitzt eine junge Frau, die er nicht kennt. Sie trägt einen dunklen Mantel und ein rotes Halstuch.
Vor zwei Tagen ist ein alter Mann ums Leben gekommen. Mit dem Namen Sebastian Wilfert verbindet er nichts. Die anderen behaupten, an Festtagen habe man ihn üblicherweise gesehen. Zumindest, solange seine Frau gelebt habe.
Herr, erbarme dich unser. Christus, erbarme dich unser. Herr, erbarme dich unser.
Irma brüllt wie immer. Bei ihr hat das nichts zu tun mit dieser Betschwesternlautstärke, die vor allem dazu da ist, Frömmigkeit zu demonstrieren. Irma leidet unter einer chronischen Mittelohrverkalkung und ist beinahe taub. Die Ärzte sagen, noch einmal operieren bringe nichts.
Eine nichtssagende Lesung aus dem Epheserbrief, Ermahnungen an die Gemeinde. Mäßigt euch! Absolut lächerlich, war doch dieser Apostel Paulus selbst ein unendlich narzisstischer Mensch, dem es vor allem um Einfluss und Geld ging. Manchen Kollegen gegenüber darf man das allerdings nicht sagen. Robert zum Beispiel verficht die Hypothese, Paulus sei für das Christentum in Wahrheit wichtiger gewesen als Jesus selbst, und wenn man das anzweifelt, ist er beleidigt.
Vermutlich spricht inzwischen die ganze Stadt über den Tod des alten Mannes. Stirbst du an einer Lungenentzündung oder an einem Herzinfarkt, ist es den Leuten wurscht, doch kaum fährt dir jemand über den Kopf, sprechen alle über dich. An der zweiten Säule links ist eine Skulptur des heiligen Sebastian angebracht. Sich von Pfeilen durchbohren zu lassen, wäre auch eine Möglichkeit.
Die Gerichtsmedizinerin behauptet, es sei mitten in der Nacht passiert. Wobei man auf Grund der niedrigen Außentemperaturen eine größere Unschärfe einzukalkulieren habe.
Im Dunkel der Nacht erscheint der Geist Gottes und zermalmt das Antlitz des Feindes. Zermalmt ist das richtige Wort.
Er versucht sich an den Mond in jener Nacht zu erinnern. Es gelingt ihm nicht. Das klotzige Schild von Kossnik, dem Steuerberater, fällt ihm ein, außerdem seine Phantasie, in einem riesigen dunkelroten Schneepflug durch die Straßen der Stadt zu fahren. Er wünscht sich seinen iPod herbei.
Knapp vor dem Evangelium beginnen ihm die beiden Weinbergers auf die Nerven zu gehen; es ist immer dasselbe. Dieser gleichgeschaltete Gesichtsausdruck, dieses Blick gewordene »und predigen Sie uns bitte was Schönes«, mit dem sie auch an Wochentagen an ihm kleben, obwohl klar ist, dass es an Wochentagen keine Predigt gibt.
Der seine Gedankenbrut packt und zerschmettert. Die Regel. Ich weiß, dass ich ihnen die Faust ins Gesicht hauen möchte, denkt er, und ich weiß, dass das nicht so sein sollte. Sauertöpfischer Weihrauch, denkt er, bei den beiden fällt mir immer ›sauertöpfischer Weihrauch‹ ein, und es beruhigt mich, obwohl ich nicht weiß, was es in Wahrheit bedeutet.
Die Ministrantin läutet mit der Handglocke. Ihre Mutter arbeitet in der Rezeption des Seehotels Wertzer. Sie hat einen kleinen Bruder und wohnt in einem der Blöcke in
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