Die Suessen Kleinen
Lehrer zum Inspektor, der das Klassenzimmer betrat. »Tirsa, die Kluge … Miriam, die Schöne … Josepha, die Freie …«
Sogar am Unabhängigkeitstag war sie frei. Sogar den Unabhängigkeitstag verbrachte sie mit Babysitten und Heftübertragen, bis in die späten Abendstunden.
»Jetzt wird’s mir wirklich zu blöd.« Die beste Ehefrau von allen schluchzte beinahe vor Zorn. »Wieso hat diese verdammte Person keinen Freund, keinen Verehrer, keinen Liebhaber? Warum zieht sie sich so entsetzlich schlecht an? Warum wird sie ihre Pickel nicht los? Was bildet sie sich eigentlich ein?« Nicht einmal Josephas Kurzsichtigkeit wollte sie ihr glauben. Wahrscheinlich diente die Brille nur dem Zweck, etwaige Interessenten abzuschrecken.
Da im Befinden meiner Frau keine Besserung eintrat, konsultierte ich unseren Arzt. Auf seinen Rat lud ich den ziemlich erwachsenen Sohn eines benachbarten Ehepaars ein, uns am nächsten Abend zu besuchen.
Josepha saß da und übertrug. Der Anblick des jungen Mannes lähmte sie völlig. Als er ihr die Hand hinhielt, brachte sie mit kaum hörbarer Stimme nur ein einziges Wort hervor: »Josepha.«
Das war alles.
Die große Wende kam in Gestalt des älteren Bruders unseres erfolgreichen Erstlingsbesuchs. Er hieß Naftali, verfügte über breite Schultern und wild behaarte Beine sowie über keinerlei Respekt vor dem weiblichen Geschlecht, setzte sich dicht neben Josepha und sah ihr beim Übertragen so lange zu, bis sie damit aufhörte und sich aufs Babysitten beschränkte. Zum Schluss wechselten sie sogar ein paar Worte miteinander, und der Händedruck beim Abschied erstreckte sich über mehrere Sekunden.
»Vielleicht«, raunte mir meine vielerfahrene Ehefrau zu, »vielleicht ist das der Anfang.«
Wenige Tage später geschah es. Meine Frau fragte telefonisch bei Josepha an, ob sie frei wäre, und die Antwort lautete: »Nein.«
»Was, nein?«
»Ich habe zu tun.«
Ein Lächeln überirdischen Triumphs glitt nach Beendigung ihres Telefonats über das Antlitz meiner Frau. Ich schloss mich an. Wir beteten gemeinsam.
Von diesem Tag an besserte sich die Lage sprunghaft. Beim nächsten Anruf war es kein Hüsteln mehr, sondern eine kräftige, wenn auch noch etwas brüchige Stimme, mit der Josepha in den Hörer rief: »Nein, leider, heute nicht. Ich bin vergeben.« (Sie sagte »vergeben« wie ein erwachsenes Mädchen.)
»Und morgen?«
»Morgen ging es höchstens bis neun Uhr.«
Wir barsten vor Stolz. Wir hatten dem armen Ding das Leben aufgeschlossen, wir hatten die Seele einer jüdischen Jungfrau gerettet, zumindest die Seele. Glücklich und zufrieden saßen wir zu Hause, und wenn etwas unsere Zufriedenheit störte, dann war es die Tatsache, dass wir zu Hause saßen, weil wir nicht weggehen konnten. Und wir konnten nicht weggehen, weil Josepha nicht frei war. Deshalb mussten wir zu Hause sitzen. Wenn man’s näher bedenkt, war das gar nicht schön von ihr. Es war geradezu niederträchtig. Ein wenig Dankbarkeit hätte man schließlich erwarten dürfen von dieser Person, die noch immer jämmerlich dahinvegetieren würde, wenn wir sie nicht aus ihrer trostlosen Existenz herausgeholt hätten. Aber nein, sie muss sich mit Männern herumtreiben.
Dem war tatsächlich so. Aus glaubwürdigen Berichten, die uns zugespielt wurden, ergab sich eindeutig, dass man Josepha und Naftali auf nächtlichen Spaziergängen beobachtet hatte.
»Eine Schlampe«, stellte die beste Ehefrau von allen mit resigniertem Nicken fest. »Wie ich schon sagte, eine ganz gewöhnliche Schlampe. Wenn irgendein Kerl pfeift, kommt sie gelaufen …«
Natürlich hätten wir die kleine Nymphomanin längst hinausgeworfen, aber das wäre auf den Widerstand unserer Kinder gestoßen, die sich in Josephas Obhut außerordentlich wohl fühlten. So blieb uns nichts übrig, als uns mit Josephas rücksichtslosem: »Leider, heute bin ich nicht frei« zähneknirschend abzufinden.
Eines Nachts, als wir aus dem Kino nach Hause gingen, begegneten wir einem jungen Paar. Mitten in der Nacht, mitten auf der Straße.
»Guten Abend«, sagte Josepha.
Da konnte aber die beste Ehefrau von allen nicht länger an sich halten.
»Ich dachte, Sie müssten sich für Ihre Prüfungen vorbereiten, meine Liebe?«
»Das tut sie ja auch.« Naftali warf sich zu ihrer Verteidigung auf. »Sie war heute als Babysitterin bei uns und hat die ganze Zeit studiert. Ich bringe sie gerade nach Hause.«
Damit verschwanden die beiden im nächtlichen Dunkel, Naftali mit
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