Die Sumpfloch-Saga Bd. 2 - Dunkelherzen und Sternenstaub
auch tat. Seit er ihr Geheimnis im letzten Schulhalbjahr herausgefunden hatte, war er zu ihrem stillen Beschützer geworden. Er brachte ihr bei, die böse Energie, die in ihr steckte, auf Umwege zu schicken, um indirekt doch noch etwas Gutes zu erreichen. Vor allem aber brachte er ihr bei, wie man sich tarnte und unkontrollierte Zaubereiausbrüche verhinderte. Scarlett hatte schon große Fortschritte gemacht, vor allem in den vier Wochen Ferien, in denen sie mit Viego fast jeden Tag geübt und Winterblut-Punsch getrunken hatte – einen heißen Beerensaft mit köstlichen, aber harmlosen Gewürzen.
Wenn sie so beisammen saßen und draußen die Schneeflocken leicht und still zu Boden wirbelten, fühlte sich Scarlett ermutigt, von der dunkelsten Zeit ihres Lebens zu erzählen. Dann wurden die schwarzen Ringe unter Viegos Augen noch schwärzer und die Augenfältchen noch tiefer und er schüttelte den Kopf angesichts dessen, was er da hörte. Aber er hatte versprochen, niemandem zu erzählen, was er von Scarlett erfuhr, und so biss er sich nur mit seinen schrecklichen Zähnen auf die Lippe und nickte düster.
„Ja, in diesem Land ist nicht alles so, wie es sein sollte“, sagte er manchmal. „Leider können wir nur wenig dagegen tun.“
Scarlett fand das weit weniger schlimm als ihr bevorzugter Lehrer. Denn sie kannte es nicht anders und für sie hatte sich alles im Leben zum Besseren gewendet, seit sie nach Sumpfloch gekommen war, der Schule, die in einem graugrünen Sumpf lag, umgeben von einem unwirtlichen, dunklen Wald. Offiziell hieß die Schule gar nicht Sumpfloch. Sie hieß „Allgemeine Schule für absonderliche Fähigkeiten“. Ein sehr unpassender Name, war es doch eigentlich die Schule für fehlende Fähigkeiten und fehlendes Geld. Wer in diese Schule ging, war auf allen anderen Schulen des Landes nicht erwünscht. Nur in Finsterpfahl gab es angeblich noch eine Schule, in der es ebenso viele arme, unbegabte, böse, dumme und unerwünschte Kinder gab wie in Sumpfloch – wenn nicht noch mehr. Es hieß, wer es schaffte, aus Sumpfloch rausgeschmissen zu werden, würde noch im ‚Kostenlosen Internat von Finsterpfahl’ unterkommen. Diese andere Schule musste die Hölle auf Erden sein. Während es in Sumpfloch gar nicht so schrecklich war, zumindest wenn man wie Scarlett Schlimmeres gewohnt gewesen war. Hier in Sumpfloch bekam Scarlett immer etwas zu essen, sie hatte ein eigenes Bett, genug zum Anziehen und lernte, wie sie eines Tages in der Welt zurechtkommen würde, obwohl sie eine böse Cruda war. Nur die Lehrer, die im Auftrag der Regierung hier herumschnüffelten und ihre Schüler aushorchten, die bereiteten Scarlett Sorge. So wie Estephaga Glazard, die Lehrerin für Heilmittelkunde mit den Reptilien-Augen und der hervorschnellenden, blauen Zunge.
„Du willst mir doch nicht erzählen, dass du das alles wirklich liest!“, rief Gerald, der gerade in die Bibliothek gekommen war und nun vor Scarletts Tisch stand. Er zeigte auf die Stapel von Lexika, die sich dort türmten, so hoch, dass Scarlett fast dahinter verschwand.
„Was soll ich denn sonst damit machen? Sie essen?“
Scarletts Herz stotterte kurz. Warum, das wusste sie auch nicht so genau. Sie war nicht verliebt in Gerald. Ganz sicher nicht. Dafür gab es viele Gründe. Erstens: Er war irgendwie reich. Zwar war er nur der Sohn von Harold Winter, dem Geschichtslehrer, und Lehrer in Sumpfloch waren normalerweise nicht reich. Aber die Winters verhielten sich viel vornehmer als andere und Gerald hatte immer teure Anzüge an, nicht von der spießigen Sorte, sondern von der lässigen Sorte. Was zweitens auch ein Grund war, ihn zu verabscheuen: Denn er sah gut darin aus, so gut, dass bestimmt jedes Mädchen in Sumpfloch heimlich für ihn schwärmte. So etwas auch zu tun, lag weit unter Scarletts Würde. Drittens: Die teuren Anzüge kamen ja nicht aus dem Nichts. Es war anzunehmen, dass Papa Winter, der Geschichtslehrer, für irgendwelche Dienste bezahlt wurde. Es gab hier ja nicht nur Spione der Regierung, oh nein, es gab auch Spione von geldgierigen, zwielichtigen und verbrecherischen Organisationen, die im Heimlichen wirkten. Die bezahlten sicher besonders gut für Spionagedienste. Das erklärte auch, warum Gerald so ein teures Duftwasser verwendete, das nicht albern, sondern leider männlich duftete. Er hatte ihr den Namen gesagt und die Marke. Das war viertens. Denn wer gab damit an, dass er sich mit Duftwässerchen einparfümierte?
Fünftens:
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