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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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die auf dem Weg waren. Von sechzehn bis achtzig Jahre alt waren die Leute. Da waren auch eine Mutter mit zwei Kindern von zehn und elf Jahren und eine Familie mit Esel und Ziege und einem Kind von zwei Jahren. Letztere liefen schon ein Jahr auf dem Weg. Das Tempo bestimmte der Esel, der manchen Tag nicht laufen wollte. Sie schlugen ihr Zelt im Freien auf, melkten die Ziege und verteilten die Milch an die Pilger.
    Ich begegnete einem Mann mit Klumpfüßen, einem Franzosen, der lief winzig kleine Schritte — jedes Jahr zweihundert Kilometer. Er setzte dort den Weg fort, wo er im letzten Jahr geendet hatte. Der Weg über Steine und Geröll war mühsam für ihn, aber selten habe ich so lachende Augen gesehen, so frisch und jung wie von einem Kind dabei war er Mitte sechzig.
    Ein anderer Mann — dem fehlte das linke Bein sprang mit zwei Krücken über alle Berge hinweg. Er war etwas über dreißig Jahre alt und hatte bei einem Autounfall sein Bein verloren. Er wollte neu leben lernen und hatte sich von seiner Frau getrennt. Er hatte sie freigegeben, da nach dem Unfall alles anders war. Ich war voller Hochachtung und verbot mir in Zukunft irgendeine Unzufriedenheit. Ich wüsste nicht, wie ich mit einem solchen Schicksal umgehen sollte. Ich dankte tausendfach für meine Gesundheit.
    Ich traf auf einen „Trainierten“, der sich vor dem Start ein Jahr mit echtem Lauftraining und Gepäck auf dem Rücken vorbereitet hatte, dreimal wöchentlich zehn Kilometer mit zehn Kilogramm. Dieser Mann musste am dritten Tag mit einem Muskelriss nach Hause fahren. Also ein trainierter Körper macht es wohl nicht!
    Was ist es aber dann, das dazu befähigt, dass man oder frau den Weg bis zum Ende gehen kann?
    Eine Frau aus Kanada, die sechzehnjährig ihr Kind zur Adoption freigegeben hatte, traf sich das erste Mal mit ihrer Tochter, die in Frankreich lebte, auf dem Jakobsweg, um ihn gemeinsam zu gehen und sich kennenzulernen. Die beiden waren überglücklich. Sie gingen hundert Kilometer und machten dann zusammen Urlaub — sie wollten nur noch sich haben.
    Da waren ein Vater und ein Sohn gemeinsam gestartet. Der Sohn, achtzehn Jahre alt, verliebte sich in einen Mann, schaffte das Coming-out und verließ seinen Vater, der mir später sein Herz ausschüttete.
    Ich begriff, dass dieser Weg sein Geheimnis hat. Dieses Geheimnis offenbarte sich einem jeden Pilger auf seine eigene Weise. Jeder fand seine ureigenste Herausforderung. Der Eine musste aufgeben lernen, der Andere durchhalten, wieder der Nächste sich öffnen, oder — wie ich — sich abgrenzen.
    Ich fühlte, dass ich lauschen lernen und jede Vorstellung loslassen musste. Was jeder erleben sollte, stand in den Sternen, lag auf dem Weg, kam aus der Seele, dem Körper, und konnte weder bewertet noch übertragen oder verglichen werden.
    Mir wurde klar, dass wir alle die gleichen Voraussetzungen hatten, ob Millionär oder Bettler. Symbolisch gesprochen: Wir hatten alle zwei Beine, um zu gehen, einen Körper als Fahrzeug und einen Rucksack als Gepäck. Darin waren das Leben und alle Vergangenheit verpackt und mussten geschleppt werden. Der Arme hatte die gleichen Gefühle wie der Reiche, auch die gleichen Ängste. Keiner konnte dem anderen seinen Rucksack abnehmen.
     
    Hier auf dem Camino lernte ich, meinen eigenen Rhythmus zu finden. Ich bin keinem Menschen begegnet, der wirklich meinen Rhythmus hatte. Wenn ich mit anderen gemeinsam ging, versuchten wir, uns irgendwie anzupassen, in der Schrittfolge, im Tempo, in der Art, Pausen zu machen usw. Das war möglich und eine Zeit lang richtig. Wir machten dann gemeinsame Erfahrungen, tauschten uns aus, lernten voneinander, bereicherten uns. Nach einer gewissen Zeit aber schmerzten mir die Füße, Muskeln und Sehnen, weil ich mich angepasst hatte. Oder eine innere Unzufriedenheit blieb, weil über das Reden und Austauschen der Kontakt zur Landschaft und zu mir selbst nicht intensiv genug gewesen war.
    Dies erscheint mir wie eine Lebensmetapher. Ist es im Alltag nicht ebenso? Kann Partnerschaft wirklich gelebt werden, ohne sich selbst zu verlieren? Muss sich nicht immer einer anpassen, oder beide ihren Rhythmus verändern, damit die Gemeinschaft bestehen bleibt?
    Kann es Partnerschaft nicht immer nur für eine gewisse Zeit geben?
    Wie kann eine Gemeinschaft wirklich lebendig sein und bleiben, ohne dass sich der Einzelne unterordnen oder anpassen muss? Mit vielen Pilgern habe ich diese Themen berührt, fast alle sind auf der Suche nach neuen

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