Die Tänzerin auf den Straßen
echten Werten in Beziehungen. Es gibt viele Fragen, doch in die Antworten müssen wir hineinleben.
Lieber Leon,
heute ist mein sechster Wandertag. Ich bin in einem winzigen Dorf im Baskenland. Es ist Mittag, die Luft ist frisch, meine Füße sind noch munter. Ich sitze vor einem Portal am Markt, habe Socken und Schuhe ausgezogen und esse Brot mit Oliven. Es ist Feiertag. Ein kleiner Laden hat geöffnet. Hier verstehen sie kein Spanisch, nur die Sprache der Augen und des guten Willens, so sie denn wollen... Handzeichen und viel Lachen. Da kommt eine alte Dame im Morgenmantel mit rosa Rosen. Sie schlendert auffallig, sehr langsam. Sie ist geschminkt und will gesehen werden — von den Pilgern, glaube ich. Sie ist eine interessante Frau — war früher sicher eine Schönheit. Sie lächelt und schaut allen direkt in die Augen. Dann beginnt sie ein Gespräch mit einem Mann auf der Bank, uralt, mit einem Lederhautgesicht. Ich fühle zwischen den beiden Alten den feinen Hauch der Erotik, die Freude am Sosein. Keine Frage, sie gefallen sich. Wie schön, dass Liebe nicht aufhört, auch Erotik nicht. Ich glaube, dass sie im Alter sogar zunimmt, je selbstverständlicher ein Mensch „da“ ist. Leon, ich finde mich schön. Als ich achtzehn war, wusste ich nichts von mir und meiner jugendlichen Schönheit. Ich konnte sie nicht nehmen und nicht wirklich geben, da ich meinen Körper noch nicht entdeckt hatte. Erotik hat mit Selbstsicherheit zu tun und ist pure Natürlichkeit.
Deine Sinnlichkeit, Leon, kommt aus den Augen und aus deinem Mund, wenn er spricht. Wie du die Worte hauchst... Was für ein nebliger Tag! Aber ich bin glücklich — die beiden Alten haben mir Sinnlichkeit geschenkt...
Wir gebären aus dem Traum die Lust,
die uns übergießt
mitten in diesem abgebrochenen Tag,
wo der Nebel
seine grauen Sprüche
auf die Straßen legt wie Steine.
Der Alltag auf den Gassen und Straßen
Wie unwichtig ich bin mit meinem bisschen Gepäck! Bin verdreckt und mürrisch, schlecht gelaunt, weil ich Hunger habe und heute Morgen keine Lust zum Aufstehen. Aber bis acht Uhr müssen alle die Herbergen verlassen haben. Ich laufe automatisch viele Kilometer, habe aufgehört, darauf zu achten. Ich bin kein Kilometerhai wie die anderen, die stolz sind auf die Zahlen. Manche sammeln sogar Stempel für die Pilgerpässe... Bin stumpfsinnig, brütend — und zeige es auch! Schlechte Laune!!!
Gehen... gehen... Ich höre die Schritte wie einen Trommelklang. Und mit einem Mal ist die schlechte Laune weg.
Die Veränderung der Gefühls- und Empfindungslagen durch Weitergehen und Weiteratmen sollte mich den ganzen Weg begleiten.
Gehen... Gehen...
Die Sonne reitet am Firmament die Nacht.
Gehen... Gehen...
Licht und Wärme leuchten der Ferne.
Gehen... Gehen...
Ein Krähenschrei für den Weg gedacht.
Gehen... Gehen...
Die Straßen führen nach nirgendwo.
Gehen... Gehen...
Ich bin ein Staubkorn auf den Gassen.
Gehen... Gehen...
Drei Körnlein Weisheit in den Taschen:
Allein für mich hat Gott die Welt erschaffen.
Leon,
es ist der Nachmittag des achten Tages — kurz vor Santo Domingo, wo ein Hahn und eine Henne in einer Kathedrale im Käfig eingesperrt sind. Ich liege auf dem Rücken im Gras und schaue in den Himmel. Dort oben kreisen fünf Bussarde. Ich werde sehr wach, denn sie bilden einen Kreis direkt über mir. Da verlässt einer den Kreis, und sie fliegen zu viert, dann der Nächste, und sie fliegen zu dritt — und so fort. Sie tanzen, tanzen für mich, ich fühle es. Zum Schluss bleibt einer übrig — er kreist über mir und schreit seinen Freiheitsschrei, den ich immer schon liebte... Dann verschwindet er in den Wolken. Soll das ein Zeichen für mich sein? Ich habe immer zu fünft gelebt, zusammen mit drei Söhnen und einem Mann. Zum Schluss waren es nur noch Johannes und ich... Wir beide haben kein gemeinsames Kind bekommen, doch ich weiß, dass er sich nichts sehnlicher wünscht, dass er es vor mir leugnet, um mir nicht wehzutun. Das wiederum halte ich nicht aus. Werde ich von nun an allein bleiben, ohne Familie? Bis auch ich in den Wolken verschwinde...
Lieber Leon, du und ich haben keine Zukunft, nicht als Mann und Frau. Du bist alt und redest oft vom Tod. Warum hat das Leben uns zusammengeführt? Ich spüre, dass wir uns Erinnerungen geben, die wir beide nötig brauchen, um in einer tieferen Schicht unserer Seele zu erwachen... alter Mann, warte mit dem Sterben, bis ich zurück bin. Ich will bei dir
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