Die Tänzerin auf den Straßen
habe, wohl mein Lieblingsgetränk bleiben.
Lieber Leon,
ich liege in einer schäbigen Herberge irgendwas Privates, kurz nach Los Arcos. Nirgendwo gab es einen Platz, ich fand einen kleinen Zettel an einem sehr verwahrlosten Haus.
Jetzt liege ich hier und kann gleich schlafen. Eine Matratze und ich, drum herum nur kalkweiße Wände. Neben mir brennt eine Kerze, es gibt, glaube ich, kein elektrisches Licht im Haus. Eine alte Frau öffnete. Ihr Gesicht war runzlig, sie schien um die achtzig Jahre alt zu sein. Ihr Blick war so forschend wie der meine. Ach, ich hätte sonst wo geschlafen. Draußen regnete es, sodass in der Natur zu schlafen unmöglich war. Sie zeigte mir die Wasserpumpe auf dem kleinen Innenhof und wollte die fünf Euro haben. Ich trank mich satt und wusch meine Hände, mein Gesicht. Abends kann ich kaltes Wasser nicht ertragen, wenn ich müde und ausgelaugt vom Gehen bin. Es schmerzt mich auf der Haut.
Jetzt liege ich hier, hungrig, leer, einsam. Zum Essen fand ich nichts mehr, und ich wäre auch nicht mehr in der Lage gewesen, die Alte um etwas zu bitten. Trotzdem empfinde ich Glück und Geborgenheit, das Gefühl der Führung, und ich freue mich wie verrückt auf ein Frühstück, wohlwissend, dass ich morgen eine Bar finden werde, wo es Café con leche gibt. Mein Körpergefühl bringt eine Kindheitserinnerung hoch aus der Weihnachtszeit. Jedes Jahr kam am ersten Advent der Weihnachtsmann mit seinen Helfern, den Engeln und Zwergen, und nahm mein gesamtes Spielzeug weg und das meiner Geschwister. Er brachte dafür den Adventskalender und einen Kranz, den meine Mutter natürlich selbst machte. Nacht für Nacht lag ich im Bett und sehnte mich nach meiner Puppe und den anderen Spielsachen. Die Adventszeit war die schrecklichste, aber auch die erregendste Wartezeit meiner Kindheit. Ich liebte meine Dinge nie so stark wie während ihrer Abwesenheit, und die Sehnsucht nach ihnen erzeugte eine starke innere Frequenz des Glücks und der Vorfreude auf das Wiedersehen. Am Heiligen Abend lagen die vertrauten Sachen unterm Weihnachtsbaum, und alles an mir erbebte in Liebe, als ich meine Puppe mit einem neuen Kleid und frisch eingedrehten Locken in den Armen hielt. Wir vier Kinder spielten die ganze Nacht und vergaßen die Welt um uns herum...Es waren die altvertrauten Dinge, die neue Kraft hatten, weil wir Kinder sie mit ganzem Herzen ersehnten... Leon, ich schlafe schon fast... denke noch leere Räume... Leere...
Die Begegnung mit den Pilgern war für mich eine Herausforderung im Neinsagen. Ich wollte allein den Weg gehen, um zu mir zu kommen. Sie kamen aus allen Ländern der Welt. Wir waren schnell in Kontakt mit Englisch ging das ganz gut. Am Ende des Weges träumte ich schon in Englisch.
Es waren die unterschiedlichsten Menschen, jeder mit einem anderen Schicksal, mit anderen Voraussetzungen und Motiven, den Weg zu gehen. Doch jeden trieb eine Sehnsucht, jeder wollte sich selbst erfahren und kennenlernen.
Nachts in den Herbergen war jeder für sich allein. Für mich war es eine große Herausforderung, zusammen mit so vielen Menschen zu schlafen. Alle lagen wir in Doppelstockbetten. Den Nachbarn neben und unter mir flüchtig zulächelnd, kroch ich auf mein Lager, wohlwissend, dass das Pupsen, Schnarchen und laute Träumen mich die halbe Nacht wachhalten würde. Aber das Glück, überhaupt ein Lager zu haben, wo der müde Körper ruhen konnte, war groß, und so ertrug ich alle Geräusche und Gerüche. Ich lernte, wie Augenschließen in die Innenwelt führt, wie ich überall sofort bei mir sein konnte und niemand ein Gespräch mit mir anfing.
Wenn ich sehr offen und verletzlich war, ausgelöst durch die tiefen seelischen Prozesse beim Gehen, bekam ich die vielen Schwingungen direkt ins Bauchzentrum... Zu Hause hat jeder eine Intimsphäre, lebt mit vertrauten Menschen — hier war man ausgeliefert. Es war eine große Lehre. Und immer wieder diese Ahnung, wie es Leuten auf der Flucht ergehen muss, oder Heimkindern, Soldaten im Krieg, Asylbewerbern, Gefängnisinsassen, Menschen in Lagern. Wie nicht jede Pflanze in jeder Gemeinschaft gedeiht, fühlt sich der Mensch nicht mit jedem wohl. Die Herbergen waren nicht immer sauber, die Duschen oft verschmutzt. So gab es kleine Tierchen — Läuse und Flöhe. Als ich die ersten sah, redete ich mit ihnen. Vielleicht hat das geholfen. Die Matratzentierchen kamen nicht zu mir, vielleicht aus diesem Grund.
Ich staunte über die vielen Nationen und Altersgruppen,
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