Die Tänzerin auf den Straßen
sein in deiner letzten Stunde. Ich weiß, dass du wartest.
Ich nenne unsere Liebe „Der alte Mann und das Meer“. Ich bin das Meer, das dich noch einmal erschüttert hat, kurz vor deinem Ende. Wie oft hast du geweint ob deines Alters. Ich bin all deine Sehnsucht, all das Unerfüllte, das du dir nie gestattet hast wegen deiner Familie und der guten Erziehung... Und... und... und. Das Leben hat so viele Rätsel. Warum verhalten wir uns so und nicht anders? Du bist alt und schön, im Vollbesitz deiner geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte. Viel Zeit haben wir nicht — doch viele mögliche Augenblicke.
Der alte Mann und das Meer
Er hatte seine Augen geöffnet
und das Meer gesehen.
Es kehrte gerade zurück
aus der Ebbe Gezeiten
und brach sich an Fels und Gestein.
Mit lautem Stöhnen rief es nach ihm,
und vom grünblauen Himmelsschrein
trafen so seltsam von Wellen gebrochen
Urgewalten an sein Ohr.
Der Alte schrie
wie der königliche Kormoran
in den Lüften
und musste in das tiefe Verlocken fassen.
Er wusste mit allen Sinnen:
Die nächste Welle spült ihn von hinnen,
an ein Ufer, unbekannt und weit,
fern aller Gestade vergangner Lebenszeit…
Und der Geschmack seiner Tränen
war wie bitteres Salz.
Schritt... Schritt... Gehen... Gehen...
Die Tage gingen dahin, im wahrsten Sinn des Wortes. Ich selbst wurde der Weg. Die Landschaften veränderten sich und damit die Herausforderungen. Manchmal lief ich wie in Trance, ein andermal kostete es mich die volle Konzentration. Und doch war es ein normaler Weg und wurde Alltag. Ich bemerkte, dass ich mich selber mitgenommen hatte. Wo blieben nur all die großen Gefühle von Spiritualität und Erleuchtung?! Täglich begegnete ich mir mit all meinen Gefühlszuständen und Widersprüchen.
Mich bewegte sehr, dass diesen Weg seit Jahrhunderten Menschen gelaufen waren, dass unter meinen Füßen Schweiß, Blut und Tränen unserer Ahnen den Boden tränkten. Wenn gar nichts mehr ging, halfen mir das Gefühl und das Wissen darum auf geheimnisvolle Weise weiter.
Es gab einen Drang in mir weiterzugehen, und der Sog der anderen Pilger half mir dabei.
Mit der Zeit fühlte ich mich auf der Straße zu Hause. Das Gehen wurde angenehmer, und ich bemerkte, dass ich leichter und leichter wurde, dass ich fast schwebte oder tanzte.
I ch bin die Tänzerin auf den Straßen.
Die Nacht lastet schwer
auf meinen zerrissenen Kleidern
und alle Monde, die an mir vorbeigezogen,
und die Kälte der Sterne.
Des Tags reißen die Winde mein Haar,
der Staub trocknet die Augen aus,
und die glühenden Steine
lassen mich nicht ruhen...
Die Füße sind so heiß wie die Sonne,
doch gleiten sie entlang der Wege,
ohne Halt und Ankunft,
über Brücken und Berge.
Erst seit ein Hahnenschrei mich weckte,
wurden Mut und Stärke mein Stecken,
Wachheit mein Mantel,
und die Fähigkeit meiner Füße,
zu singen mit dem Stundentakt der Zeit,
lässt mich springen
durch Landschaft, Zeit und Raum.
Ich bin die Tänzerin auf den Straßen.
Leon,
es ist gut, dir zu schreiben. Es ist die einzige feste Größe auf diesem Weg. Du hast Zeit und hörst zu, du hörst immer zu, du willst alles wissen von mir, alles verstehen.
Heute habe ich die Zärtlichkeit der Fliegen kennengelernt. Fliegen nerven mich in der Regel sehr. Ich legte mich, nach zwanzig Kilometer Fußmarsch, mitten in die Pampa. Sofort fiel ich in Schlaf, und die Fliegen nahmen mich wie eine Festung ein. Ich wurde wach davon und bemerkte, dass es mich freute, wie die kleinen flinken Wesen über die freien Körperstellen liefen und meinen Schweiß tranken. Auf einmal konnte ich sehen, dass sie wie ein Dienstleistungsservice arbeiteten — sie putzten mich von oben bis unten sauber. Ich bekam ein zärtliches Gefühl für die normalerweise ungeliebten Tierchen und genoss ihre Körperberührungen.
Ich dachte, dass ich wohl sehr entspannt sein muss...
Meine Füße sprechen mit dem Weg
Schritt... Schritt... Gehen... Gehen...
Trotz all meiner Lust auf Einsamkeit stellte ich lachend fest, dass der Mensch ein Herdentier ist, also auch ich. Automatisch bildeten sich Pilgerfamilien in den Herbergen, oder schon auf dem Weg oder in Kneipen und Bars.
Ich lief die meiste Zeit allein, und doch hüpfte mein Herz, wenn es vertraute Menschen sah. Mit der Zeit ging etwas in mir in Resonanz mit anderen, sodass ich immer wieder auf dieselben Leute traf. Wenn ich sie tagelang nicht getroffen hatte, sehnte ich mich nach ihnen.
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