Die Tänzerin auf den Straßen
Ein jeder erinnerte mich an eine Seite von mir.
Da war Wanda aus Kanada, deutschstämmig, dreiundsechzig Jahre alt und verwitwet eine Frau mit einem heiter kindlichen Gemüt, die immer gut drauf war. Die liebte ich sehr, weil sie mich an meine Fähigkeit zum Vertrauen trotz vieler Schicksalsschläge erinnerte.
Karl aus Österreich stellte sich als Menschenhasser vor. Er war sechsundzwanzig Jahre alt und kam aus einem Adelsgeschlecht mit strenger Erziehung und viel Lieblosigkeit. Er wollte sich lieben lernen. Immer wieder sind wir uns begegnet. Er verlor auf dem Camino seine Angst und verbitterte Einsamkeit. Weil Pilger sich helfen, heilen und in die Arme nehmen, wenn sie sich freuen oder weinen, hat er vertrauen gelernt. Er war am Ende des Weges ein total neuer Mensch. Er spiegelte mir meinen inneren Zorn.
Ben aus Dänemark, schwul, dreiundfünfzig Jahre alt, aussehend wie fünfunddreißig, hatte ein reines unschuldiges Gesicht, aber viele Verletzungen in seiner Seele. Er war mit heilenden Händen begabt und legte sie allen auf, wenn sie Schmerzen hatten. Er konnte den Weg jedes Jahr laufen, weil er wegen eines Nervenleidens berentet war. Er war ein Heiler auf dem Weg und schenkte mir die Erinnerung an mein inneres Kind.
Martin aus Süddeutschland, dreiundzwanzig Jahre alt, Student mit koreanischer Teilabstammung, neugierig auf sich und auf das, was ihm so begegnen mochte den habe ich nur lachend erlebt, bis auf einen Tag, wo er weinend im Gebüsch lag und ich fühlte, dass ich weitergehen sollte. Jeder heult hier irgendwann. Martin erinnerte mich an meine Neugier. Daisy, achtundzwanzig, und Ruth, fünfundvierzig Jahre alt, beide aus der Findhorn-Kommune — sie hatten sehr mit den Flöhen zu tun, und ich gab ihnen mein Teebaumöl, was auch geholfen hat. Sie waren die Visionärinnen einer neuen Zeit, und wir fanden uns in diesem Thema.
Ray und Mary-Ann aus den USA, beide Lehrer im Ruhestand, Herzensmenschen, die sich beim Sprechen viel Mühe gaben, um von allen gut verstanden zu werden — ein Paar, das sich auf dem Weg nicht getrennt hat und keinen Stress miteinander hatte. Viele Paare trennten sich, gingen einzeln weiter und trafen sich noch nicht mal mehr in den Herbergen. Es gab auch Paare, die zusammenblieben, sich aber täglich stritten und schlecht gelaunt waren. Ich empfand Hochachtung für die beiden, da ich sah, wie ehrlich sie nach fünfunddreißig Jahren Ehe zueinander waren und ihre Beziehung etwas Leichtes, Direktes und Humorvolles hatte.
Karel aus Holland, dreiundfünfzig Jahre alt, gab während des gesamten Weges Interviews über das Radio. Ein Freimaurer, herzensgut und sehr reich, wie er sagte. Er konnte sich die teuersten Speisen und Hotels leisten, erlegte sich aber den Verzicht auf, sich nur zwanzig Euro täglich zu gestatten. So viel brauchte auch ich ungefähr, obwohl die Preise in Nordspanien sehr niedrig lagen. Mit Karel lernte ich einen Teil meines Schattens kennen. Er sah mich und war überzeugt, dass ich die Frau bin, die er heiraten will. Er lebte seit vielen Jahren mit einer Malerin in einer unglücklichen Beziehung, hatte sich allerdings noch nicht getrennt. Immer wenn wir uns sahen, küsste er mich und stellte einen Heiratsantrag. Ich erkannte sein durch und durch gutes Herz und seine Bedürftigkeit. Er hatte in seinem Leben oft Verweigerung erfahren, weil er mitten im Gesicht eine Narbe trug. Ich mochte ihn, fand seine Narbe sogar interessant, aber mehr konnte ich nicht erwidern. Seine Aufdringlichkeit ging mir auf die Nerven. Freundschaft hätte ich schon gewollt, aber er wollte mich heiraten. Und außerdem konnte er nicht allein gehen, da er sich ständig mitteilen musste.
Ich wollte Harmonie, eine Auseinandersetzung vermeiden, wollte lieb sein... Meine Falle ist, nicht verletzen zu wollen und dann herumzueiern im wahrsten Sinne des Wortes. Wie ich das an mir verabscheue! Doch ich musste ihm irgendwann eine Abfuhr erteilen, und zwar richtig, was auch half. Als er mich wenig später Fischaugen essen sah und das mit Genuss, wollte er mich auf gar keinen Fall mehr heiraten. Karl-Heinz, ein Mittsechziger aus Bayern, lief mit Kilometerzähler. Er erinnerte mich an meinen Leistungsdruck. Nach einiger Zeit wurde er krank an seinen Füßen, entspannte sich, lief sehr langsam und genüsslich und hatte plötzlich Freude auf dem Weg.
Frank aus Irland schimpfte immer, wenn es keine Küche gab in den Herbergen. Er kochte konsequent sein Essen selbst, da er ein Forscher war, der durch
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