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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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besondere Nahrungsaufnahme sein Leben auf hundertvierzig Jahre verlängern wollte. Er lehrte mich, wie bitter man werden kann, wenn man Ziele im Kopf hat und den Augenblick oder die Situation, wie sie gerade ist, nicht mehr annehmen kann.
    Abraham aus Holland, ein Großunternehmer, der mir eine Fußmassage schenkte und mich für drei Tage nach Madrid mitnehmen wollte, was ich ablehnte, weil es nicht mein Weg war... Und da gab es noch Luciana aus der Schweiz, achtundzwanzig Jahre alt, die eine Hasenscharte hatte wie mein Sohn. Sofort sah ich das Zeichen in ihrem Gesicht. Wir begegneten uns in einer Bar kurz vor Burgos, wo es wunderbare Bocadillos gab und wir uns satt aßen. Vorsichtig fragte ich nach der Narbe an ihrem Mund, und sie ging gleich darauf ein, so als hätte sie längst darauf gewartet, erzählen zu dürfen. Sie erzählte mir ihre Geschichte, die der meinen mit Sascha glich. Luciana war auf dem Weg, um sich lieben zu lernen.
    Wie ein hässliches, nicht liebenswertes Mädchen hatte sie sich immer gefühlt. Sie war bereits in Frankreich gestartet und drei Wochen länger unterwegs. Sie erzählte, dass die alles umfassende Liebe sie nach einem Aufstieg in den Pyrenäen erfüllt hat und dass sie sich jetzt neu wahrnehmen kann.
    Die schwierigen Jahre nach der Geburt von Sascha kamen zurück und damit alle schmerzlichen Erfahrungen.
    Es war für mich eine besonders glückliche Schwangerschaft gewesen. Sascha war mein zweites Kind, und ich war gerne schwanger. Damals arbeitete ich bei geistig behinderten Kindern.
    Die Geburt selbst verlief gut. Doch als er da war, gab es ein Wort, das wie eine Machete mein Glück durchschlug: Missbildung. Die Geburtshelfer gaben mir das Kind nicht in den Arm, nahmen es eilig in ihre medizinische Obhut. Ich durfte das Kind nicht sehen, da es 1976 in der DDR ein Gesetz gab, wonach nur Ärzte mit der Mutter sprechen durften. Es war früh morgens gegen drei Uhr und nur die Hebamme hatte Dienst. Weil ich hysterisch nach meinem Kind schrie, beruhigte sie mich mit einer Spritze, die meine Sinne benebelte. Ich weinte wie eine Katze. Gegen sieben Uhr kam der Arzt und zeigte mir endlich mein Kind. Es hatte eine Spaltbildung an Mund und Rachen — das Zeichen im Gesicht, sofort für alle sichtbar. Der Arzt teilte mir mit, dass dies oft gepaart ist mit geistiger Behinderung oder hoher Intelligenz. Ich nahm das Erstere an, weil ich ja gerade auf solch einer Station gearbeitet hatte. In der Nacht nach der Geburt stritt ich mit Gott um das, was er mir da auferlegte. „Die dunkle Nacht der Seele“ nennt man das in den Büchern. Ich fühlte, es würde mein Leben verändern. Und als der Morgen kam, war mein Herz bereit, sich allem hinzugeben, was auch kommen mochte. Demut — ich lernte kennen, was Demut heißt. Ich schwor dem Kleinen, mit ihm durch dick und dünn zu gehen, und eine heftige Liebe, wie die einer Löwin, durchströmte mein ganzes Sein.
    Eine Maschinerie an wissenschaftlichen Untersuchungen ging los. Ursachenforschung von Behinderungen. Genetische Defekte, woher sie kommen. In der Familie des Vaters und der meinen hatte es das noch nie gegeben. Wie hat das Kind gelitten an den Untersuchungen und Operationen — und immer unter Trennung von mir. In der DDR durften die Mütter nicht mit ins Krankenhaus, und die Kleinen wurden nach der OP angebunden, damit sie nicht nuckeln und die Narben zerstören. Jeder Krankenhausaufenthalt bedeutete ein Trauma. Danach habe ich das Kind immer an meinen Körper gebunden, damit es neu vertrauen lernt. Trotzdem kann Sascha bis zum heutigen Tag meine Liebe und die der Familie nicht spüren... Heute nennt man das in der Psychologie „Unterbrochene Hinwendung“ und es braucht Heilung dieser Traumatisierung. Mein Sohn ist nicht geistig behindert, sondern ausgestattet mit vielen Gaben. Er ist Tänzer geworden und Musiker, komponiert und malt.
    Wie jung ich war, gerade vierundzwanzig Jahre alt — und voller Lebenshunger auf mich selbst.
    Ich durchlebte noch einmal alle Stationen der Geschichte, während ich Kilometer um Kilometer lief. Es überkam mich ein Gefühl der Liebe zu meinem Sohn und zu mir und zu unserer geheimnisvollen Verbindung. Ich spürte so etwas wie Würde und Stolz und dankte dem Leben, eine solche Erfahrung gemacht und Reifung erlebt zu haben!
    Noch nie hatte ich mich dafür gewürdigt! Immer hatte ich nur meine Unzulänglichkeit gesehen — alles das, was ich nicht erreicht hatte, was mir nicht geglückt war. Unter den harten,

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