Die Tänzerin auf den Straßen
Herberge. Es war ein Genuss!!! Zwölf Betten, nicht weit von der Kathedrale entfernt. Als ich dort ankam, hatte das Leben bereits die Karten gemischt. Meine „Familie“ war dort durch Zufall zusammengekommen. Wir freuten uns. Die Räume waren sauber und fein, und die Bettwäsche war frisch. Leise Musik tönte durch die Zimmer, und Duftlampen waren aufgestellt. Beim Eintritt wurden alle gesegnet. Es war wie nach-Hause-kommen. Am Abend feierten wir zu zehnt in einer Kneipe. In Deutschland war ja auch Wahlsonntag, an dem es darum ging, ob das Land eine Kanzlerin bekommt. Und es bekam!
Nach einem so tollen Abend wollte man nie wieder auseinandergehen... Es gab nur zwei Möglichkeiten: Zusammen weitergehen und dann doch spüren, wie sich das Zusammensein erschöpft, oder allein weitergehen und warten, wen das Leben in der nächsten Herberge zusammenwürfelt. Ich bevorzugte die zweite Variante, weil es so spannend blieb. Außerdem liebte ich das Alleingehen.
Warum ich mich so wenig für die Kathedralen interessierte, wurde mir erst später klar. Zunächst nahm ich bloß ein unangenehmes Gefühl wahr, das ich nur in wenigen Kirchen nicht hatte.
In Burgos gab es plötzlich einen eisigen Wind. Viele von den Pilgern wurden ernsthaft krank, auch vor Erschöpfung. Mir war auch nicht so wohl zumute. Ich hatte Homöopathie eingepackt und half mir selbst und auch den anderen damit. Ja, die gute alte Medizin. Es gab wieder einmal Sekundenheilungen mit dem richtigen Mittel. Wahrscheinlich war ich gut bei mir. Alle Pilger konnten weiterlaufen, dank der kleinen Kugeln. Ich hatte auch eine gute Fußsalbe aus drei Schüßlersalzen gemischt. Die half mir und auch anderen verletzten Pilgern täglich weiter.
Saß ein Pilger am Weg, gab er ein Zeichen, wenn er Hilfe brauchte. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, ihn in Ruhe zu lassen, es sei denn, er bittet um Hilfe.
Lieber Leon,
mein früher Fußmarsch heute am elften Tag führte mich durch Burgos — neun Kilometer Betonstraße. Das ist die Hölle für die Füße! Es ist kalt, sehr kalt — ein Wind wie in Frankreich der Mistral. Ich habe die Zeichen verloren, jetzt heule ich in die Kaffeetasse. Es ist sieben Uhr und noch dunkel, die Stadt ist ein Labyrinth. Ich sitze in einer Spelunke in einer dunklen, verkommenen Ecke der Stadt. Ich habe mich verlaufen. Hier kennt keiner den Camino. Drei Männer sitzen an der Theke und trinken am frühen Morgen Schnaps... Sie lallen etwas vor sich hin. Der Raum ist verräuchert. Doch die Kneipenmama ist eine Frau mit Herz. Ja, sie hat ein Herz für diese Suffköpfe, scheint viel erlebt und gesehen und in manchen Abgrund der menschlichen Seelen geblickt zu haben. Ihr Gesicht, das Gesicht einer Mittfünfzigerin, trägt diese klare warme Festigkeit, die sich durch nichts erschüttern lässt. Ihre dunklen Augen blicken offen, doch streng. Sie lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen.
Sie hat mir einen wunderbaren Café con leche gemacht und ein Brot aus ihrem privaten Kühlschrank, denn zu essen hat die Kneipe nichts.
In der Nähe dieser Frau entspanne ich mich, trinke noch drei Café, nur damit ich bleiben kann. Geht es den Suffköpfen auch so? Vielleicht haben sie wie ich kein Zuhause. Auf einmal fühle ich mich ihnen sehr verbunden und fange an, sie zu mögen. Ich werde weich, es tropfen die Tränen noch einmal in die Kaffeetasse. Ich bin berührt.
Leon, du lieber Mensch, ich spüre dich nicht mehr. Du bist weit weg. Ich schreibe dir, aber ich kann nichts fühlen. Wer bist du überhaupt? Habe ich dich gefunden oder erfunden?
Nach Burgos öffnete sich eine Landschaft aus kargen Hügeln, Kalksteinen, Trockenheit, Steppe, Schafherden und weiten Ebenen. Es wurde wieder heiß sauheiß.
Der lange Weg durch eine steinige, triste Steppe. Alle Flüsse ausgetrocknet und alle Seen. Trockenheit, kein Baum, kein Strauch... kein Platz zum Ausruhen, Essen oder Scheißen. Ich hatte viele Kilometer hinter mir und konnte nicht ruhen. So ist es also, wenn es zu viel Licht gibt. Bloß Sonnenschein macht das Land zur Steppe. Ich hatte genug von der Erleuchtung!
Der Camino führte auch noch an einer großen Straße vorbei. Endlich sah ich einen Baum. Er stand dicht bei dem Highway und warf seinen Schatten direkt auf diesen. Ich konnte nicht mehr laufen, keinen Schritt konnte ich weitergehen. Ich legte mich in die achtzig Zentimeter breite Spalte zwischen Fahrbahn und Straßengraben, das einzige Stück Schatten weit und breit. An mir rasten die Autos und
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