Die Tänzerin auf den Straßen
liegt.
Ich reite mit den Winden
Es ist Donnerstag, der 29. September in einem kleinen Dorf nach Astorga — mein 21. Wandertag.
Ich darf heute nicht so viel laufen, meine Füße schmerzen. Gern würde ich mir mal ein Hotel leisten, aber so viel Geld habe ich nicht. Mehr als fünfzehn bis zwanzig Euro kann ich mir pro Tag nicht zugestehen, da es sich summiert in sechs Wochen.
Der Ort heißt Castrillo de los Polvarzares. Ich sitze vor der Kirche. Alle Häuser sind aus rotem Stein. Da sehe ich einen Bettler kommen, dem das Gesicht total mit einem Blutschwamm zugewachsen ist. Hier haben sie nicht das Geld für Operationen oder Pflegeheime. Er erschreckt und berührt mich mit seinem Anblick. Jedenfalls kann keiner der Vorübergehenden einfach wegsehen. Und das ist gut so!
Heute begegneten mir sechs Reiter, — Männer, die mit ihren Pferden nach Santiago pilgern. Von nun an sehe ich sie jeden Tag. Wir scherzen miteinander, und sie wollen mich mitnehmen. Ich soll auf den Pferden mitreiten. Ich lache und verzichte dankend. Darauf habe ich keine Lust.
I ch reite mit den Winden,
verwildert und längst vergessen
von Gott und der Welt...
Ich sehe die Horizonte schwinden,
blau, türkis, braun und gelb
in des Himmels Weltengelächter.
Komme ich an,
sind die Wolkenschlösser fort.
Ich reite mit dem Westwind
weiter von Ort zu Ort
und komme nie ans Ziel.
Lieber Leon,
diese Nacht hatte ich wieder einen seltsamen Traum. Ich lag in meinem Bett, es stand inmitten einer Eis- und Winterlandschaft, aber mir war nicht kalt. Ich hatte ein angenehmes Gefühl. Ich schlief und träumte im Traum, dass die Erde als Frau neben mir stand. Sie hatte langes grünes Haar bis zum Boden, und es bedeckte ihren Körper. In ihm hingen Blätter und Beeren und Federn, und Vögel nisteten darin wie in Zweigen. Um die Stirn herum blühten weißer Holunder und kleine Röschen. Sie lächelte und sagte, dass ich wissen soll von ihr, wie sich in Zukunft alles Leben verändern wird, auch das des Menschen. Nichts bleibt so, wie es einmal war, doch wir sollen uns nicht fürchten. Wir werden es an unseren Körpern spüren. Sie werden schmerzen, und uns wird schwindlig sein und oft auch sehr müde... Dann blies sie mir ins Gesicht, und ich wurde so müde, dass ich die Augen nicht öffnen konnte. Ich lag wie gelähmt...
Als ich erwachte, war ich in genau diesem Lähmungszustand, und meine Augen wollten sich nicht öffnen. Meine Glieder schmerzten so, als hätte ich eine Grippe.
Ein seltsamer Traum, Leon. Ich fühle mich heute nicht wirklich auf der Welt, eher wie dazwischen. Ich hasse diesen Zustand, zumal, da ich gerade auf der Straße zu Hause bin... Wie schön und wunderbar sind doch die Ameisen, wenn sie meine Brotkrumen davontragen mit ihren flinken Beinchen...
Schritt... Schritt... Gehen... Gehen...
Jeder weitere Tag wurde zur puren Demut, das Gehen ein Glück...
Ich lebe, bin lebendig, habe ein fühlendes Herz mit allen Möglichkeiten! Lebensvertrauen stieg in mir auf und verließ mich nicht mehr. Ich wusste, dass ich überall neu anfangen kann, weil mein wirkliches Zuhause ich selber bin. Die anderen Menschen, Partner, Kinder, die vielen Spielstätten des Lebens, Wohnorte, Arbeitsstellen und so weiter, sind nur geliehen für eine bestimmte Zeit.
Sicherheiten gibt es nicht. Es gibt nur das Geschenk des Lebens, und das ruht in mir selber.
Ich meinte, eine Antwort gefunden zu haben auf die Frage, was Glück ist: ein innerer Zustand der Offenheit, der Totalität, ganz im Augenblick zu sein und nichts anderes zu brauchen oder zu wollen.
Schritt... Schritt... Gehen... Gehen...
Ich setzte jeden Schritt bewusst. Die Langsamkeit und der Genuss des Auftretens, die Verbindung zur Erde, wurde eine tägliche Freude und Herausforderung, besonders dann, wenn die anderen wie ein reißender Strom mit Schnelligkeit an mir vorbeirasten.
Ich lernte, wie kollektives Verhalten auf mich wirkt und wie leicht man sich anstecken lässt.
Viele beneideten mich um meine Langsamkeit, zumal ich auch ans Ziel kam abends spät, doch ein Bett hatte ich immer. Manchmal war es nur eine Matratze in der Küche oder Kirche. Hauptsache liegen!
Ich traf in einer deutschen Herberge in La Faba in den galizischen Bergen auf Astrid, die dort wunderbare Massagen gab. Sie war etwa fünfzig Jahre alt und hatte nach dem Pilgern ihr altes Leben aufgegeben, um dort oben den Leuten zu helfen. Sie nahm nur Spenden für ihre Heilkunst.
Ich sah viele Möglichkeiten, wenn das
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