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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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Himmel — draußen zwischen den Maisfeldern der kastilischen Weite in der Provinz León.
    Als ich dir diesen Namen gab, französisch ausgesprochen, wusste ich nicht, dass ich einmal durch eine Stadt pilgern würde, die den gleichen Namen trägt, nur spanisch ausgesprochen, und den gleichnamigen Wein trinken würde Der Nachthimmel war wunderbar klar, und die Sterne der Milchstraße waren sehr nahe über mir. Immer wieder Sternschnuppen. Das weite unendliche Universum. Ich dankte und dankte und war die Dankbarkeit selbst, während mein Herz sich öffnete unter diesem Anblick. Dann schlief ich ein. Wieder hatte ich einen seltsamen Traum.
    Ich träumte, dass ich auf der Erde liege. Die Erdkugel ist ein blauer Ball, und ich liege auf diesem Ball. Ich liege auf dem Bauch. Plötzlich fängt die Erde an, sich zu drehen wie in einer Spirale. Ich werde mit der Spirale gedreht und bewegt. Die Beschleunigung nimmt zu, und wir sausen durch einen Tunnel, der am Ende hell ist. Im Licht wird mir klar, dass es nichts wirklich gibt. Alles um mich herum löst sich auf und findet sich neu. Ich weiß plötzlich, dass alles Leben nur Energie ist und durch Energie Leben Materie wird. Der Geist oder die Idee gibt die Form...
    Ich erwache, es ist kalt — mir ist kalt. Ich bin aufgeregt, habe das Gefühl von Hilflosigkeit. Etwas in mir weiß, dass mein Traum Wahrheit ist. Ein anderes Wesen hat davor Angst. Ich will irgendeine Sicherheit, es muss doch auch Sicherheit geben... Noch während es Nacht ist, gehe ich weiter. Die Angst weglaufen. Ich weiß inzwischen, dass sich jeder Gefühlszustand verändert. Weiter atmen, weiter gehen. Atmen... gehen... Ich fühle mich verloren und einsam hier in der Pampa...
     

I m Spiegel des Nachtflusses
leuchtet der Mond,
still und goldenschwer versunken.
Es greifen meine Herzhände
tief nach ihm.
Auf dem Grunde der Welt
war mein Gesicht ertrunken...
ungeöffnet, verschlossen
von den grauen Türen der Zeit.
Und die Furcht
sollte das Echo nicht finden.
     

Geliebter Leon,
    heute ist es mir geglückt, auf einen spanischen Friedhof zu kommen. Sie sind oft abgeschlossen. Ich liebe es, auf Friedhöfen zu verweilen, mir die Grabsteine anzusehen, ihre Inschriften zu lesen und mir Geschichten darüber auszudenken, wie die Toten gelebt haben und wer sie waren, welche Eigenschaften sie hatten usw. Ich rechne mir ihr Alter aus und sehe nach dem Sternzeichen ihrer Geburt, oder ich spiele gedanklich mit den Zahlen ihres Geburts- oder Sterbedatums — auch mit denen ihrer Verwandten. Da gibt es unter Umständen merkwürdige Verbindungen und Zusammenhänge. Ich stehe vor einem Familiengrab. Eine Siebzehnjährige ist am 2.12.1976 gestorben. Das ist das Geburtsdatum meines mittleren Sohnes. Ein merkwürdiger Zufall. (Ob die beiden sich begegnet sind? Sie ging, er kam.) Ihre Mutter starb am gleichen Tag, fünfundzwanzig Jahre später, also am 2.12. 2001. Die Frau war dreiundsechzig Jahre alt.
    So verbringe ich heute einige Stunden auf dem Friedhof eines kleinen Ortes, kurz vor Hospital de Órbigo. Hier fällt mir auf dass es sehr oft die weinende Maria gibt, die ihren sterbenden Sohn in den Armen hält. Als Bilder oder in Stein gemeißelt. Das gefällt mir sehr gut, es ist irgendwie echt und berührend und kann auch trösten. Wer soll mehr weinen als die Mütter? Außerdem ist Maria sehr oft überaus erotisch dargestellt.
    Jetzt geht das schwere Tor auf und eine Frau Mitte sechzig kommt herein. Sie geht zu einer Gruft, macht sich ein schwarzes Kopftuch um und holt aus ihrer Handtasche ein kleines Musikgerät. Jetzt streichelt sie den Stein und aus dem Rekorder tönt eine zu Herzen gehende Musik für den Toten. Dabei weint sie selber laut und durchdringend. Diese Traurigkeit trifft mich bis ins Mark. Auch als die Musik verklungen ist, schreit sie weiter. Kniend streichelt sie immer wieder den Grabstein und weint und weint...
    Sie hat mich nicht bemerkt, und mir wird klar, dass ich sehr intimen Gefühlen lausche und Zeugin einer tiefen Herzenssache bin — der Trauer dieser einfachen spanischen Frau. Ich schließe die Augen und lasse ihren Schmerz durch mich durchgehen... Ich bin mit der Unbekannten verbunden, und mein Herz weiß jetzt mehr von ihr.
    Ihr Weinen wird weniger, sie steht auf, schlägt ein Kreuz, steckt das Gerät in die Tasche, nimmt das Kopftuch ab und geht. Ich höre das schwere Tor ins Schloss fallen.
    Ich gehe zu diesem Grabstein und lese. Es muss vom Alter her ihr Sohn sein, der da begraben

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