Die Tänzerin auf den Straßen
woher der Selbsthass kommt, der sich durch alle Menschenherzen zieht. Wenn nicht gerade Hass, so doch Zweifel, Ablehnung, Selbstverleugnung, Selbstwertstörungen, unterdrückte Gefühle oder das Gefühl, nicht in Ordnung zu sein. Ich fragte meine Pilgergeschwister, wie es ihnen damit wohl geht, und siehe da, jeder von ihnen war auf der Suche nach Erlösung. Fast alle waren in einer Krise auf den Weg gegangen, um sich zu finden oder Gott was immer das für jeden auch sein mochte.
In León kam sehr leise aus der Tiefe eine Antwort. Beim hundertsten Anblick einer mächtigen Kathedrale erkannte ich den Heroismus, dem wir alle dienen.
(Heute sind es die Banken mit ihren Häusern, die sind noch höher als die Kathedralen.)
Ich traf Klaus aus Ulm. Er ging den Weg, um fromm zu werden. Als ich fragte, was das ist, gab er zur Antwort: „Das glauben zu können, was man in der Kirche erzählt.“ Er suchte große Gefühle durch den Anblick der vollkommener Kathedralen. Ich selbst war davon übersättigt. Manchmal hatte ich Kotzgefühle.
Durch das lange Gehen in der Natur, bis zu zwölf Stunden täglich, fühlte ich die wunderbaren Kräfte in ihr und in mir die Freiheit, ich sein zu können.
Alle vier Elemente forderten mich heraus, und ich lernte meine inneren Kräfte kennen, wenn ich mich ihnen stellen musste. Jeder Tag, jede Stunde war anders. Immer andere Gefühle! Wieviele Widersprüche wollten in mir vereint sein! In der Natur wurden sie mir bewusst, weil die Natur selbst sie in sich trägt.
Die Kirchen, Klöster, Kathedralen erschienen mir wie ein Antiquitätenkabinett.
Die Priester waren oft böse alte Männer, von denen ich mich nicht segnen lassen wollte. Womit begründet die Kirche den Anspruch, nur ihre ausgebildeten Geistlichen dürfen den Segen erteilen?
Die Gesänge der Mönche und Nonnen waren oft so traurig und wurden gesungen von ebenso traurigen Menschen. Ich empfand tiefes Mitgefühl und ging später zu keiner Messe mehr, um mir das Leid nicht weiter ansehen zu müssen.
B uen Camino
Eine blaue Taube
schenkte mir für den Weg eine Feder
und erinnerte mich an die Leichtigkeit der Schritte.
Der rote Mohn
gab mir seine weichen Blütenblätter.
Ich spürte die Wärme meines Blutes.
Der Hagebuttenstrauch
ließ kosten mich von den wilden Beeren
und stärkte mir die wunden Füße.
Vom Weinstock
bekam ich die roten Trauben.
Sie stillten meinen heißen Durst.
Der Wind aber
verschenkte eine frische Brise,
zu kühlen mir die glühende Stirn.
Eine Ameise
aß von meinem Brote
und erfreute mich mit ihrer Bewegung.
Ein Stein
legte sich mir in den Weg,
zu fragen nach meiner Bestimmung.
Der Espe Blätter
fielen in meinen Schoß,
zu bedecken mich am heißen Mittag.
Mein sehnendes Herz
gab mir seinen Takt.
Ich fand den eigenen Rhythmus.
Und der weite Weg
zeigte mir seine Richtung.
Ich sah in meiner Seele das Ziel.
Ich blieb nicht sehr lange in Leon. Das städtische Treiben nervte mich — ich bin zu dünnhäutig. Ich schlief im Kloster und musste abends um zweiundzwanzig Uhr im Bett liegen. In einem indischen Lokal traf ich auf zwei liebe Weggenossen, Ben und Beth, die sich ineinander verliebt hatten und mich zum Essen einluden. Sie schliefen in einer Herberge und hatten nicht diesen Zeitstress. Wir redeten ewig lange miteinander. Der indische Kneiper hatte fünf Jahre in Bayern gelebt und sprach ein Deutsch mit bayrischem Akzent.
Ich bekam einen Schreck, als ich auf die Uhr sah und bemerkte, dass mein Kloster gleich schließt. Ich rannte und rannte und kam trotzdem zu spät. Ewig klopfte ich, bis jemand öffnete. Ich fühlte mich wie ein Mädchen in der Pubertät, das heimlich durchgebrannt ist und doch erwischt wird. Irgendwie war ich wütend über dieses Zeitdogma.
Am nächsten Morgen verließ ich die Stadt noch im Dunkeln. Neun Kilometer Fußmarsch durch die Stadt. Sehr anstrengend. Nochmal fünfzehn Kilometer durchquerte ich ein Gebiet mit Maisfeldern, nichts als Maisfeldern. In einem kleinen Örtchen ging ich in eine Herberge, die von Pepe geleitet wurde. Sehr hell und neu. Pepe kochte für uns und zelebrierte die Speisung.
Ich erfuhr, dass er als Pilger an diesem Ort schwer erkrankt war und mit Gott einen Deal gemacht hatte. Er hatte ihm versprochen, falls er gesunde, eine Pilgerherberge zu eröffnen. Er wurde gesund und tat es.
Ich habe seine Liebe und die Sauberkeit in der Herberge sehr genossen.
Lieber Leon,
in der vergangenen Nacht schlief ich unter freiem
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