Die Tänzerin auf den Straßen
Erlebnisse und Erfahrungen? Was macht der Weg mit mir zu Hause?
A m Ende der Reise
werden wir beieinanderstehen,
du und ich und du und du.
In den Augen die große Erfahrung,
wissend umeinander
und unwissend zugleich.
Jeden Morgen geweckt
von den inneren Gezeiten
und dem Lockruf des Blutes
seit Anbeginn der Menschheit,
gehorchten die Füße einer unsichtbaren Kraft,
dem Strom der Erde und den Tönen des Herzens.
Verfangen im Gedankengespinst,
im Gewebe aller Wetter
und in elenden Gassen,
gingen wir und gingen
durch Licht und Schatten,
durch Tag und Traum,
durch Tränen und Freude,
durch Steppe und Wald...
In den Nächten lagen wir beieinander.
Von göttlichen Fäden der Vorsehung
miteinander vernäht,
begegneten wir uns selbst noch im Schlaf...
Am Ende der Reise
werden wir beieinanderstehen,
Hand in Hand,
die wunden Füße im Meereswasser
und die Augen gerichtet zum Horizont,
von wo das Licht der großen Sehnsucht
unsere Blicke ineinanderfließen lässt
zu einer heiligen Feier.
9. Oktober, Santiago de Compostela
Sehr früh stand ich auf und war gegen fünf Uhr kurz vor der Stadt, die mir aus dem Dunkel heraus hell entgegenleuchtete. Mir wurde klar, dass es in Städten nie Dunkelheit gibt und dass die Menschen darin immer Licht haben. Vielleicht können ihre Augen im Dunkeln nichts mehr sehen?
Die Stadt empfing mich sonntäglich verschlafen... Auf den Straßen Diskoheimkehrer betrunken, vergnügt, umnachtet, verkifft...
Sie gingen in eine bestimmte Richtung, ich folgte, und alle landeten wir in einer Kneipe, wo es Café und belegte Brötchen gab. Mein Herz jubelte und auch mein Magen. In Spanien gab es morgens so selten offene Kneipen.
Wieder das Glücksgefühl zu leben — wegen einer simplen Tasse Café con leche und einem Käsebrötchen...
Ich saß draußen, denn der Morgen war mild. In mir der ganze Genuss des Daseins und des Ankommens in einer Stadt, die neben Jerusalem und Rom die meistaufgesuchte Pilgerstadt ist. Ich genoss das Ankommen nach siebenhundert Kilometern und zweiunddreißig Tagen des Gehens.
Langsam, sehr langsam ging ich in den Morgen und in die erwachende Pilgerstadt. Ich achtete auf jeden Schritt.
An der berühmten Kathedrale bekam ich dann den Kulturschock, da ein nicht enden wollender Touristenstrom von irgendwoher kam...
Ein Zimmer! Ich wusste, ich würde mich heute feiern, indem ich mir ein wunderbares Einzelzimmer leistete.
Wenige Augenblicke später in der Dusche. Ich kniete, und während das Wasser warm und wohlig über mich strömte und strömte und strömte, weinte ich und weinte und weinte. Glück, Lust, Leidenschaft, Freude, ein Beben und Zittern, ein göttlicher Strom durchfloss mich, wie schon so oft auf dem Weg. Die Tränen vermischten sich mit dem Wasser, ich schluchzte und schluchzte... Heiliges Wasser der Liebe! Augenblicke später in der Kathedrale. Ich sah meine Pilgerfreunde. Einer nach dem anderen erreichte das Ziel. Wir umarmten uns und weinten miteinander... Ekstase, die nicht enden wollte. Mir wurde mit einem Mal klar, dass es ein 9. Oktober war. Meinen Körper durchzog ein Beben. Es kam die Erinnerung an den 9. Oktober 1989 in Leipzig. Die gleichen ekstatischen Umarmungen, die Tränen, das Glück, die Solidarität, als den siebentausend Menschen die Freiheit zugerufen wurde und nicht die Erschießung kam, die wir alle erwartet hatten. Leben! Lebendigkeit! Im Angesicht des Todes und der Gefahr ist die Liebe zum Leben und zu allem, was lebt, größer denn je. Welch ein Zufall, dass es ein 9. Oktober war wie damals! Dieser Tag veränderte mein Leben — und das Leben eines ganzen Volkes, ja vieler Völker. Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems und der Aufbruch seiner Enge.
Lebendige Spiritualität, lebendige Religion. Mit Gesängen, Kerzen und Gebeten, gepaart mit dem Mut, für die Freiheit des Geistes und der Herzen das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, gingen wir alle schweigend Hand in Hand durch die Straßen. Die Köpfe gesenkt, erwarteten wir die angekündigten Todesschüsse. Wie klopfte damals mein Herz. Wie stark liefen uns allen die Tränen beim Abschied von unseren Familienmitgliedern, die zu Hause geblieben waren, um in den heimischen Kirchen zu beten. Im ganzen Land läuteten die Glocken, als in Leipzig um siebzehn Uhr die Gottesdienste begannen.
Eine ganze Nacht lang hatte ich mit mir gestritten, ob ich nach Leipzig fahren soll. Ich hatte Kinder, die mich noch brauchten... Aber wer sollte das System verändern, wenn nicht
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