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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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Warten gelernt haben begriffen, dass es Zeiten zum Handeln und Zeiten für die Ruhe gibt. Wir haben die Stille kennengelernt, auch miteinander. Damals war es für mich eine große Sache, miteinander zu schweigen. Es war für mich ein Zeichen, mit diesem Mann zusammenzubleiben.
    Ein zärtliches Gefühl für Johannes stieg in mir auf, während ich mit den anderen Frauen auf das Ende des Regens wartete. Aus diesem Gefühl heraus schöpfte ich Hoffnung: Es wird alles gut, es muss alles gut werden... Wir können neu beginnen, nach zwölf Jahren eine neue Runde wagen...
     

Lieber Leon,
    ich bin am Meer angekommen. Finisterre, das Ende der Welt. In mir ist es sehr still. Ich atme das Ende der Welt in meine Lungen, und ich weiß, es ist das Ende vom Gehen, Gehen, Gehen... und der Anfang vom Zurückgehen. Das Meer hat mich mit dickem Nebel empfangen. Nichts zu sehen, doch zu riechen, zu schmecken, zu atmen... Möwen, ihre Schreie, das Rauschen der Wellen. Es ist Ebbe. Kälte. Kähne treiben im Hafen. Fischer holen vollgefüllte Netze aus den Booten... Der alte Mann und das Meer... Du bist hier, als hättest du am Ende der Welt, am Ende meiner Reise auf mich gewartet. Aus dem Nebel lächelst du mir zu, dein Blick ist so verführerisch und ein bisschen frech — wie damals, als du mir ein Glas Sekt in die Hand drücktest mit den Worten: „Guten Morgen, du Schöne. “
    Doch du bleibst im Nebel. Ich gehe auf dich zu, aber der Abstand zwischen uns bleibt...

    Leon, als ich ein Kind war, wollte ich dort hinlaufen, wo der Himmel die Erde berührt, zum Horizont. Wie oft bin ich viele Kilometer gerannt, völlig außer Atem... bis ich eines Tages nüchtern und sachlich von den Erwachsenen erklärt bekam, dass das der Horizont ist und Himmel und Erde sich niemals berühren können. Ich gab mein Laufen nicht auf, bis ich etwa zwölf Jahre alt war. Eines Tages markierte ich mir einen Punkt genau am Horizont, wo ich aus der Ferne deutlich sah, dass dort der Himmel die Erde berührt. Es war ein großer Baum. Dann lief ich los. Als ich ankam, wusste ich es dann genau...
    Enttäuscht legte ich mich auf die Wiese und blickte in den Himmel. Niemals also würde der Himmel die Erde berühren können. Warum war nur alles so nüchtern? Ich blieb liegen, als wartete ich auf ein Wunder. Und während ich so lag, fühlte ich den Wind auf meiner Haut und die Sonne im Gesicht. Ich schlief ein und wurde von einem Gewitterregen mit abwechselnden Hagelschauern geweckt. Ich rannte Richtung Heimat, stellte mich unter eine schützende Buche und wartete auf das Ende des Gewitters. Buchen sollst du suchen, hatte mein Großvater uns gelehrt. Blitze um mich herum, Donnergrollen — ein weiterer Versuch des Himmels auf die Erde zu kommen. Wenig später ein doppelter Regenbogen. Ich lachte. Die möglichen Wunder waren geschehen. Der Himmel hatte mir gezeigt, wie er auf die Erde kommt... Bald darauf hörte ich auf, mit Puppen zu spielen. Ich bekam meine Menstruation und kümmerte mich immer weniger um meine Traumwelt, in der ich gelebt hatte wie in einer wirklichen Welt. Ich lernte die Einsamkeit kennen und die Sehnsucht nach den Männern. In jeder Liebe wollte ich, dass ein Wunder geschieht, nämlich dass der Himmel die Erde berührt. Ich hoffte auf eine Offenbarung oder Wahrheit in einem ehrlichen Augenblick. Ich glaube, ich wusste selber nicht, was ich da suchte... Vielleicht die Aufhebung der Getrenntheit zwischen den Geschlechtern, zwischen uns Menschen überhaupt? Ich bin zu vielen Horizonten gelaufen, das heißt, ich habe viele Männer geliebt. Unsere Leiber und Seelen haben miteinander gerungen, sich näher zu kommen in der Lust — direkt, offen, machtvoll...
    Noch muss ein Schleier sich öffnen. Liebe, Liebe...
    Und jetzt, da ich dich im Nebel finde, Leon, hier am Ende der Welt, da du mich anschaust und betrachtest, wie ich am Strand gehe, um Jakobsmuscheln zu suchen — am Ende einer langen Reise kommt sie, die Frage. Direkt in mein Herz stößt sie, wie eine Möwe ins Meer:
    Bin ich fähig, mich lieben zu lassen? Habe ich mich wirklich lieben lassen können von all meinen Geliebten? Und haben sie sich lieben lassen können? Oder waren wir alle darauf bedacht, alles zu tun, um geliebt zu werden? Leistungen erbringen, Bedingungen erfüllen, einen Druck, den sich jeder selber macht, aus Selbstzweifeln und Unsicherheit. Vielleicht hat dies nie jemand verlangt, außer unserer eigenen Unzulänglichkeit.
    Wie groß ist die Angst vor wirklicher Nähe?
    Ich

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