Die Tänzerin auf den Straßen
wir? Wir hatten riesige Angst, dass die DDR ein Getto werden würde. Welche Zukunft hätten unsere Kinder dann gehabt?
Beim Abschied spielte mir der Sechzehnjährige ein Lied auf der Gitarre und sagte, dass er mich sehr liebt. Und die Jüngeren meinten, sie wüssten, ich käme wieder... Die anderen und ich kamen wieder — mit einer neuen Zukunft!
Und heute dieser Tag. Unser aller Leben, das Leben aller Pilger würde eine Veränderung erfahren nach der Reise. Für keinen von uns würde es sein wie vorher. Wir umarmten uns und wussten, eine neue Zukunft wartet nach dem Weg auf uns. Ich fühlte eine große Heiligkeit aufsteigen, spürte das Leuchten in mir... Am Abend eine große Glücksfeier mit den anderen Pilgern... Wenig später treffe ich auf Santiago, den Harfenspieler. Er sitzt an einer Ecke der Straße vor der Kathedrale und spielt die schönste Musik. Ich setze mich hin und höre zu, die Töne umhüllen mich... Als er merkt, dass ich zuhöre, schenkt er mir ein Konzert von zwei Stunden und seine CD, die selbst gebrannt und mit Hand beschriftet ist. Sie hat das Foto seines kleinen Sohnes als Cover. Er sagt, dass er sieht, wer von den Pilgern gelaufen ist. Sie haben große offene Augen und sehen glücklich aus.
Wir umarmen uns lange, dann gehe ich schlafen.
Auf nach Finisterre, ans Ende der Welt
Am nächsten Morgen hatte der Wind gedreht und viele Regenwolken mitgebracht. Noch hundert Kilometer lagen vor mir, aber ich war glücklich, wieder zu laufen. Mein Herz liebte und erinnerte sich an das Schaukeln der Hüften, den Rhythmus der Füße...
Das Klima war feucht-warm, schwül... Düfte von feuchter Erde, süßlichen Blüten, Wäldern voller Eukalyptusbäume. Wenige Pilger waren unterwegs. Für die meisten ist Santiago Endstation.
Es regnete unaufhörlich. In Negreira war eine einzige Pilgerherberge mit sechzehn Betten. Drin waren aber mindestens vierzig Pilger, weil der Regen uns nicht weitergehen ließ... feuchte Klamotten, überfüllte Räume. Wir schliefen auf Fußböden. Keiner durfte den Raum verlassen, um nicht auf Köpfen und Beinen rumzutreten. Das war nicht leicht und noch einmal eine echte Tortur. Trotzdem gab es nur Lachen und Späße über die Situation. Menschen, die einen so langen Weg mit all den Quälereien hinter sich haben, regen sich über so was nicht mehr auf.
Am nächsten Morgen kroch ich in meine nassen Klamotten und stapfte zusammen mit drei anderen Frauen los — Andrée aus Südafrika, Annelein aus Holland und Marta aus Ungarn. Stockdunkler, verpisster Morgen... Nach kurzer Zeit ging nichts mehr. Wir fielen ständig in die Pfützen und sahen nach wenigen Stunden aus wie Wildschweine nur dass die mehr Spaß daran haben, sich im Schlamm zu wälzen. Wir lachten nicht mehr, saßen nur noch ratlos unter dem Dach einer Schutzhütte. Warten, einfach nur warten! Schmutzig, durchnässt und hilflos dösten wir vor uns hin. Keine sprach ein Wort...
Ich spielte „Tote Else“: Nur nicht rühren, wenn jede Bewegung unangenehm und zu viel ist. Nasse Klamotten auf der Haut und ein Rucksack mit nassen Dingen, alles klebt. Tote Else hat mir schon als Kind geholfen. Es ist ein Zustand des Verharrens, um dessen Beherrschung mich jeder Yogi beneiden würde. Ich kann Stunden in totaler Reglosigkeit zubringen, so wie Schafe, Kühe und Pferde auf den Weiden stehen, wenn es gießt.
Tief aus meinem Inneren stieg wieder eine Erinnerung auf: Australien 1995, im australischen Sommer, im Outback bei den Olgas in einer Affenhitze, bei ca. fünfundvierzig Grad im Schatten. Nie hätte ich damals geglaubt, dass ich die allgepriesene Sonne verfluchen könnte. Johannes und ich waren gemeinsam aufgebrochen, zu zweit mit einem Auto, einem alten Volvo, fünfundzwanzig Jahre alt und vierhunderttausend Kilometer hinter sich, den wir für zweitausend Dollar gekauft hatten... Zehn Wochen Australien, davon sechs im Outback... Wir kamen an unsere Grenzen mit der Hitze. Gegen zehn Uhr fielen wir in eine Hitzedepression, die uns in die gleiche Starre brachte wie jetzt der Regen in Spanien. Tote Else spielen, nur nicht atmen, nicht bewegen... Es gab kaum Schatten. Die wenigen Eukalyptusbäume stellten in der Hitze ihre Blätter senkrecht auf wegen der Verdunstungsgefahr. Bis gegen siebzehn Uhr hielt dieser Zustand an. Dann kühlte sich die Luft ab, und wir erwachten wie von selbst, konnten reden, uns bewegen, weiterfahren... Wir beide haben gelernt, uns hinzugeben an die Elemente und die Zeit. Wir haben das
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