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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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Engelsschwingen,
allein für den Wanderer,
der den Weg nicht gescheut.
     

30. Wandertag, lieber Leon. Es ist der 6. Oktober, zehn Uhr. Ich male dir ein Bild. Direkt vor meinen Augen werden die Kühe ausgetrieben. Braune, schöne Milchkühe mit großen Eutern. Zwei Männer und eine Frau gehen festen aber sehr ruhigen Schrittes hinter den Tieren her. Ein Bild des Friedens und der Ruhe.
    In mir wird eine Kindheitserinnerung wach. Der Geruch, der von den Kühen ausströmt, erinnert mich an unseren Hof und den Rhythmus eines Alltags, eingebunden in den Jahreskreis, abhängig von Jahreszeit und Wettern. Der ruhige Gang meines Großvaters, aber auch seine abgearbeiteten Hände. Die weiten Röcke meiner Großmutter, unter denen wir Kinder uns oft versteckten, aber auch ihre vielen Tränen und die Sorgen um die Ernte und das Überleben. Das fröhliche Wesen meiner Mutter, wenn sie am Morgen sang, aber auch ihre Einsamkeit inmitten der großen Familie und die Trauer, an den Hof gebunden zu sein. Die entschiedene Kraft meines Vaters, wenn wir zwei gemeinsam ausritten, aber auch sein gebrochenes Schweigen, tagelang.
    Die drei spanischen Menschen, die da ruhigen Schrittes gehen, haben auch Trauer und Depression, der eine sogar Zorn im Blick. Und alle haben große abgearbeitete Hände. Doch ganz gleich, es ist ein Bild von ehrlichem Leben. Darum bleibe ich sitzen und betrachte es wie ein Gemälde.
    Ich liebe die Langsamkeit. Jeden Schritt will ich bewusst setzen. Angst vor der Rückkehr... Die Schnelligkeit der Zeit und unser Getriebensein im Alltag versetzen mich schon jetzt in Panik. Nein! Nicht vorausdenken! Jetzt bin ich hier und sehe ein Bild des Friedens.
     

Schritt... Schritt... Gehen... Gehen...
    Die letzten Tage vor Santiago laufe ich wirklich wie mit Engelsschwingen. Täglich vierzig Kilometer — zwölf Stunden auf der Piste. Meine Füße fliegen, aber abends bin ich total erschöpft. Es gibt ein Phänomen: Ich brauche kaum noch Schlaf, trotz der Erschöpfung.
    Zwei Tige vor Santiago bekomme ich plötzlich Kniegelenksschmerzen. Zunächst denke ich, es ist wegen der vierzig Kilometer. Doch plötzlich steigt ein großer Zorn in mir auf. Ich hatte ihn nicht zugelassen oder nicht bemerkt. Als ich mein Knie einreibe, ist er da. Es ist Zorn auf Johannes, der nicht reagiert hat auf meinen Brief. Ich fühle Ignoranz. Liebt er mich noch? Will er wirklich noch weiter mit mir leben? Liebe ich ihn? Kenne ich ihn? Während ich weitergehe und heule, wieder mal, spüre ich nach dem Zorn die Liebe zu ihm. Ich bin so dankbar für unser Leben, für jede gemeinsame Stunde und Minute. Ich weiß, er kann mir und ich kann ihm nicht alles geben. Diesen Anspruch kann wohl kein Mensch erfüllen... Aber unsere freie Art, miteinander umzugehen, hat jedem den Raum gelassen, sich weiter zu entwickeln. Oder täusche ich mich? Ist diese Beziehung ehrlich gewesen? Haben wir uns was vorgemacht? Unsicherheit ergreift mich...
    Hier in der Provinz A Coruña gibt es viele Eukalyptuswälder, ein würziger Duft schwängert die Luft. Auch gibt es viele Wälder mit Steineichen, efeuumrankt.
    Plötzlich spüre ich den Drang niederzuknien, meine schmerzenden Knie ins feuchte Moos zu drücken und mich zu verneigen vor dem Willen des Lebens. Ich gebe mich ab und erbitte die Offenbarung der Wahrheit, die mir tief in der Seele liegt. Demut vor dem großen Lebenswillen, wie auch immer er aussehen mag, was auch immer er für uns bestimmt hat... Ich kniete ewig und wurde still. Die Entzündung im Knie war verschwunden.
    Wieder fühlte ich sehr intensiv: Um sich vom Leben lieben und beschenken zu lassen, braucht es Demut.
     

Lieber Leon,
    ich kann es nicht glauben: Ich bin kurz vor Santiago, in Monte do Gozo, an dem heiligen Berg, von wo aus man die Stadt Santiago sehen kann. Heute ist es eine Touristenanlage mit Hunderten von Betten, weil die Touristenpilger, die mit Bussen dahin gebracht werden, und alle die Pilger, die die letzten hundert Kilometer laufen, um die Urkunde zu bekommen, dort schlafen.
    Ich kann es nicht glauben, lieber Mensch du, mein Zuhörer, mein Begleiter. Ich stehe kurz vor dem Ziel. Ich freue mich. Ich bin auch traurig. Die Reise geht zu Ende, jedenfalls erst einmal. Ich werde noch bis zum Meer gehen, denn alle Wege führen zum Meer, zur Seele der Welt.
    Und dann? Was wird nach meiner Heimkehr sein? Was ist mit uns beiden? Gibt es die beiden dann noch? Wird es meine Lebenspartnerschaft noch geben? Wie komme ich im Alltag klar? Und alle die

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