Die Tänzerin im Schnee - Roman
der Sowjetunion der Stalinzeit, als Politik und Kunst untrennbar miteinander verstrickt waren. Auf welche Weise benutzte Stalin die Kunst für seine Zwecke, und erkennen Sie ähnliche Muster heute bei uns im Westen?
Stalin verstand auf einfachster Ebene, dass eine schöne Ballettvorführung moralisch aufbauend wirken kann, selbst wenn die Lebensbedingungen hart sind, und dass eine gut choreographierte Parade mit Tanz und Akrobatik bei den Menschen tatsächlich Nationalstolz wecken und ihre Zweifel zerstreuen kann.
Im Grunde ist es phantastisch, dass die meisten Künstler und Schriftsteller in Amerika nie darüber nachdenken müssen, ob ihre Arbeit sie womöglich in Schwierigkeiten bringen könnte. Beherrschtwerden wir nicht von der Politik, sondern von dem, was gerade in Mode ist, oder was am billigsten in der Produktion ist, oder was nach Meinung der Marketingleute Geld einbringt. Und dennoch gibt uns eine kapitalistische Gesellschaft das Privileg, jede beliebige Form von Kunst auszuüben, ob sie nun Beachtung findet oder nicht.
Für diesen Roman mussten Sie offensichtlich intensive Recherchen betreiben. Können Sie beschreiben, wie sich die Konzeption der Figuren und der Handlung aufgrund Ihrer Recherchen veränderte?
Ich wollte vermeiden, mich in der Recherche zu verlieren und gar nicht mehr zum eigentlichen Schreiben zu gelangen, also versuchte ich stets, beides gleichzeitig zu tun. Mir fiel sehr bald auf, dass meine sowjetischen Figuren sich noch zu frei verhielten, ja sogar zu frei dachten. Ich hatte geglaubt, ich hätte verstanden, wie ängstlich und wachsam die Menschen unter diesen Umständen gewesen sein mussten, doch wahrhaftig begriff ich es erst, nachdem ich immer wieder in Erinnerungen und Biographien auf kleinste Beispiele der damals ganz alltäglichen Paranoia gestoßen war.
Ihre Familie überlebte den Holocaust und floh 1956 aus Ungarn, das damals hinter dem Eisernen Vorhang lag. Wie ist Ihr persönlicher Hintergrund in Die Tänzerin im Schnee eingeflossen?
Ich schätze, der tiefgreifendste Einfluss meiner Familiengeschichte bestand ironischerweise darin, dass ich versuchte, diese Geschichte zu umgehen, indem ich sie an einen anderen Ort und in eine andere Zeit verlegte, statt direkt über sie zu schreiben. So wie mein Vater nie über seine Erfahrung des Holocausts spricht, habe ich beschlossen, nicht direkt über dieses Thema oder über die Kindheit meines Vaters im Nachkriegsungarn zu schreiben, obwohl diese Erfahrungen selbstverständlich die Entwicklung und den Charakter meiner Familie stark prägten. Jahrelang habe ich den Erinnerungen meiner Großmutter, meiner Tante und meines Vaters über ihr Leben im von den Sowjets besetzten Ungarn gelauscht und in den 1980ern erlebte ich den Alltag im Kommunismus dort zum ersten Mal selbst. Die Erinnerungen meines Großonkels an die Arbeitslager im Holocaust flossen in meine Beschreibung des Gulag ein.
Vielleicht liegt es daran, dass das von ihnen Erlebte nicht »mir« gehört, dass ich mich wohler dabei fühlte, den Roman im sowjetischen Russland anzusiedeln.
Sie schreiben über Themen der »Hochkultur« wie Lyrik und Ballett, die für gewöhnlich kein breites Publikum finden – doch Sie beschreiben sie äußerst zugänglich. War es für Sie eine Herausforderung, diese Themen zu Papier zu bringen?
Ich finde es spannend, dass sowohl Ballett als auch Lyrik, die oft als überholte oder unzugängliche Kunstformen angesehen werden, auf zwei der meiner Ansicht nach ursprünglichsten Impulse des Menschen zurückgehen: zu tanzen und zu singen. Wen lässt Musik, wen lassen großartige Textzeilen unberührt? Daher war mir das letzte Gedicht, das Grigori findet, auch besonders wichtig, weil es nicht von einem anerkannten Dichter stammt, sondern von jemandem, der sich mit Literatur nicht auskennt. Und daher rührte auch mein Glaube daran, dass ich meine Idee von der Macht des Balletts und der Poesie jedem Leser vermitteln können würde, egal, wie viel Verständnis er oder sie von diesen Dingen besitzt. Ich habe einfach versucht, so präzise wie möglich zu sein und konkrete Bilder zu erschaffen, die der Leser sich vorstellen kann, ob in den Gedichten oder in meinen Beschreibungen der Tanzszenen (in denen ich mich bemüht habe, nicht zu viel Ballett-Terminologie zu verwenden).
Sprache und Übersetzung sind ebenfalls Themen, die in Ihrem Roman auftauchen. Welche Bedeutung tragen sie für die Geschichte und die Entwicklung der Figuren?
Fürs
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