Die Tänzerin im Schnee - Roman
Jahren auf einer Benefizveranstaltung für das Boston Ballet. Vom Foyer des Wang Theatre aus hatte er sie – mit hoch erhobenem, wenn auch ein wenig steif wirkendem Haupt – auf der großen Marmortreppe stehen sehen und eine kurze, perfekt abgefasste Rede halten hören über die Bedeutung von Mäzenen für die Kunst; ihr nach wie vor dunkles, fast schwarzes Haar war zu einem derart strengen Haarknoten gebunden, dass ihre Falten straff nach hinten gezogen wurden. Christine, die neben ihm ganz hinten in der Menge stand, berührte mit einer Hand leicht seinen Arm, in der anderen hielt sie eine Sektflöte. Nina Rewskaja schien sich zu winden, während sie sprach; es war offensichtlich, dass sie jede Bewegung schmerzte. Als der Ballettdirektor sie langsam die prachtvolle Treppe hinuntergeleitete und durch das Foyer führte, hatte Grigori überlegt: Was wäre, wenn? Was, wenn ich sie ansprechen würde? Doch natürlich fehlte ihm dafür der Mut. Und dann wurde er von Christine in die andere Richtung bugsiert, zu dem neuesten Star der Balletttruppe, einem jungen Kubaner, berühmt für seine Sprünge.
Grigori schleuderte die Zeitung auf seinen Schreibtisch. Dass sie ihn derart verzweifelt loswerden wollte – so verzweifelt, dass sie sich sogar von ihrem geliebten Schmuck trennte.
Er stieß seinen Stuhl zurück und stand auf. Ein Schlag ins Gesicht war das. Und dabei kennt sie mich nicht einmal …
Sein Büro wurde ihm plötzlich zu eng. Schon ging er in dem Raum auf und ab. Er zwang sich stehenzubleiben, dann schnappte er sich seinen Mantel, zog sich seine Handschuhe an, verließ das Zimmer und eilte die enge Treppe hinunter und aus dem Gebäude.
Im Uni-Café hatte die Frühschicht bereits ihren Dienst angetreten. Hinter dem Tresen stand ein mageres Mädel mit schwarz gefärbten Haaren und verkaufte Kaffee und gigantische Bagels, während der bekiffte stellvertretende Geschäftsführer fröhlich ein Lied aus der Stereoanlage mitsang und eine Ewigkeit brauchte, um die Milch aufzuschäumen. An einem der runden Tische steckten ein paar gewissenhafte Studenten die Köpfe zusammen, und im hinteren Teil desRaumes diskutierte friedlich eine Gruppe Gastprofessoren. Grigori gab seine Bestellung auf und blickte sich niedergeschlagen um.
Das Mädchen hinter dem Tresen zwinkerte ihm verschlagen zu, als sie ihm ein dickes Stück Kuchen reichte. Grigori führte es mitsamt dem kleinen Stückchen Fettpapier, auf dem es lag, zum Mund und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen; wie das Rauchen hätte Christine auch das nicht gutgeheißen. Er dachte an sie, dachte daran, was er dafür geben würde, sie jetzt bei sich zu haben.
»Grigori!«
An einem Tisch am Fenster saß Zoltan Romhany inmitten eines Wusts von Papieren und Plastiktüten voller Bücher. »Komm, komm!«, rief er und winkte Grigori zu sich, dann tauchte er ab, um – trotz seiner betagten, zittrigen Finger – flink etwas in sein Notizbuch zu kritzeln. Er arbeitete seit etwa einem Jahr an einem Buch über seine Flucht aus Ungarn infolge des Aufstands von 56 und seine anschließenden Jahre als Schlüsselfigur der Londoner Kunstszene.
»Frohes neues Jahr, Zoltan.«
»Bist du sicher, Grigori?«
»Sieht man mir das an?«
»Du siehst fesch aus, wie immer – aber abgekämpft.«
Von einem fünfundzwanzig Jahre älteren Mann gesagt zu bekommen, er sähe abgekämpft aus, brachte Grigori zum Lachen. Zoltan war gesundheitlich ziemlich angeschlagen: Den Großteil der Weihnachtsferien hatte er infolge einer unerkannten Lungenentzündung im Krankenhaus verbringen müssen, und vergangenen Winter war er auf dem Eis ausgerutscht und hatte sich zum zweiten Mal die Schulter gebrochen. »Wasch mir nur ordentlich den Kopf, Zoltan. Es steht mir nicht zu, abgekämpft zu sein. Ich bin heute Morgen einfach nur frustriert. Aber ich freue mich, dich zu sehen. Du siehst viel besser aus.«
Vielleicht war es ein wenig merkwürdig, dass Grigoris Lieblingskollege und Freund eine Generation älter war als er selbst – doch das war ihm allemal lieber als das umgekehrte Phänomen: Professoren, die sich mit ihren Studenten in Pubs trafen. Zoltans zerknittertes Gesicht, die Tränensäcke unter seinen Augen, das Zittern seiner Hände, die grauen Haare, die luftig über seiner Kopfhaut schwebten … Nichts davon erinnerte an den Mann, der Zoltan einmal für kurze Zeitgewesen war: Stolz und Schrecken der osteuropäischen Literaturszene, Symbolfigur der aufgeklärten westlichen Welt, ein junger,
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