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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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vor, die heutige Enttäuschung auf seine Kummerliste zu setzen. Schon seit einer ganzen Weile war die Botschaft hinter dem anhaltenden Geschnatter von Carla, Dave und seiner Kollegin Evelyn (die es sich zum Prinzip gemacht hatte, ihn irgendwohin einzuladen oder ins Kino oder zu anderen kulturellen Vergnügungen mitzunehmen) unmissverständlich: Man erwartete von Grigori, dass er sich so verhielt wie die meisten Männer nach sechs, zwölf oder achtzehn Monaten Alleinseins: dass er sich eine neue Frau suchte, sich häuslich niederließ und nicht mehr ständig so bedrückt aussah. Folglich hatte Grigori vor über einem Jahr die kleine rosafarbene Ansteckschleife vom Krankenhaus abgelegt. Und jetzt, nachdem sich Christines Todestag zum zweitem Mal gejährt hatte, hatte er sogar seinen Ehering abgenommen. Er lag nun zusammen mit ein paar Krawattennadeln, die er nie trug, in einem kleinen Kästchen. Es war Zeit, sich aufzurappeln und nicht mehr der Langweiler zu sein. Zu Zoltan sagte er: »Kein neuer Grund zu klagen.«
    »Wer braucht schon neue Gründe, wenn man einen guten alten hat?« Zoltans Augen lächelten, sein Mund jedoch blieb ernst. »Schon merkwürdig, was das Schicksal manchmal mit uns anstellt.«
    »Und du?«, fragte Grigori.
    »Nun iss mal deinen Kuchen«, sagte Zoltan. »Du knabberst daran herum, als läge er auf einem fremden Teller.«
    Grigori lächelte. Er hatte recht. Gib einfach nach, schau nach vorn. Gib auf.
    Gib auf. Gib’s auf.
    Grigori bemerkte, dass er seinen Gedanken abnickte – sosehr ihm sein nächster Gedanke auch missfiel.
    Doch er hatte keine andere Wahl. Und wenn es nur zeigen würde … ja was? Dass die Sache für ihn erledigt war. Dass er Nina Rewskaja respektierte und dass sie keine Angst vor ihm zu haben brauchte. Dass er kapituliert hatte.
    Ja, er wusste, was zu tun war. Spürbar erleichtert aß er den Kuchen auf, während sich Zoltan wieder auf sein Notizbuch stürzte und zukritzeln begann. Dann blickte Zoltan auf und sagte mit ernster Stimme: »Wir müssen reden – so bald wie möglich.«
    Grigori schwieg einen Moment, dann erwiderte er: »Entschuldige, ich dachte, das hätten wir gerade.«
    Zoltan schüttelte energisch den Kopf und flüsterte: »Nicht
hier

    »Oh.« Grigori blickte sich um, doch da war niemand, der ihnen zuhörte. Er fegte die Kuchenkrümel mit dem Fettpapier zusammen. »Soll ich dich dann zu Hause anrufen?«
    »Nein, nein, persönlich.«
    Grigori zuckte verwirrt mit den Schultern. »Also gut, dann gib mir Bescheid, wann und wo. Ich mache mich jetzt mal besser auf den Weg.« Er stand auf und zog seine Handschuhe an. Zoltan nickte ihm verstohlen zu. Zwei Gäste nahmen am Nebentisch Platz, doch nach einem kurzen Getuschel setzten sie sich an einen anderen, weiter entfernt stehenden Tisch. Grigori erkannte, dass Zoltan der Grund dafür war; dass sie ihn für einen Landstreicher hielten mit seinen schmutzigen Plastiktüten, seiner fleckigen, wenn auch maßgeschneiderten Gabardinehose und seiner Seidenkrawatte mit den vielen losen Fäden. Ja, ja, das war Amerika, der große Schmelztiegel – in dem hoch geschätzte Dichter für Obdachlose gehalten wurden. »Also dann, Zoltan«, sagte Grigori. »Bis dahin.«
    »Ich freue mich darauf.« Grigori hörte echten Optimismus in Zoltans Worten mitschwingen. Er wandte sich ab und versuchte sich daran zu erinnern, wann
er
sich zum letzten Mal – richtig, aufrichtig – auf etwas gefreut hatte.
    Er war einmal jung und voller Hoffnung gewesen. Er sah den Leinenrucksack noch genau vor sich, mit dem er aus Princeton gekommen war – den mit den langen, dünnen Riemen, die nie richtig saßen, und mit den vielen Flecken an der Unterseite von all den Böden, Gehwegen und Rasenflächen. Er erinnerte sich daran, wie sein T-Shirt nach den vielen Stunden Busfahrt im Greyhound gestunken hatte, und an den Hunger, der ihn auf dem Weg die Avenue hinunter geplagt hatte. Er war neunzehn, groß, mit langen Armen und Beinen, die Haare zottelig und ungewaschen. Er war an der falschen Kreuzung ausgestiegen und hatte daher einen längeren Fußmarsch machen müssen als geplant. Die Bürgersteige hatten etwas Herrschaftliches ansich, der Schatten spendende Park dazwischen wirkte wie ein langer grüner Teppich. Die einzigen Städte, die Grigori kannte, waren Paris und New York, und verglichen damit wirkten die alten Gebäude des Stadtteils Back Bay urig und stattlich zugleich. Doch das Einzige, das für ihn zählte, war die Adresse, die er sich

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