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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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notiert hatte; das Gebäude mit der breiten Treppe und den kupfernen Balkongeländern. Die große Eingangstür mit den Holzschnitzereien war nur angelehnt. Grigori atmete tief durch und wischte sich die Hände an der Hose ab. Doch er schwitzte immer noch, also zog er sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich die Stirn.
    Er trat in den Windfang und nahm den großen braunen Briefumschlag aus seinem Rucksack, hielt ihn nervös in der Hand, bereit, ihn wieder wegzupacken, wenn niemand zu Hause sein sollte. Darin befanden sich die verschiedenen Stücke, die er für den »Beweis« hielt. Grigori fand den gesuchten Knopf an der Sprechanlage. Seine ganze Hoffnung richtete sich auf diesen einen Knopf.
    Bis heute konnte er ihre Stimme hören, wie sie argwöhnisch, unsicher aus der Sprechanlage drang: »Ja?«
    Er meldete sich auf Russisch.
    »Wie war der Name?«, fragte sie nun auch auf Russisch. Sie klang verwirrt, aber nicht verärgert.
    »Grigori Solodin. Meine Eltern kannten Nachbarn von Ihnen. In Moskau.« Das stimmte nicht ganz, doch es klang einigermaßen wahr. »Ich würde Sie gern in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.« Ihm kam ein brillanter Gedanke, und er fügte hinzu: »Kurz.«
    »Warten Sie, bitte«, sagte sie bestimmt.
    Dieses Warten, bis sie erschien … Mit pochendem Herzen spähte er durch die Glaswand, ließ den Fahrstuhl nicht aus den Augen, wartete darauf, dass dessen schmale Türen auseinandergleiten und sie freigeben würden. Doch dann erschien sie auf der Treppe, der lange, dünne Hals, die langen, dünnen Arme, und da war sie, bewegte sich auf ihn zu, als ob sie schwebte. Mit höflicher Neugier blickte sie ihn durch die Scheibe an, ihr Gesicht ein makelloses Oval, ihr dunkles, dunkles Haar streng zurückgebunden. Mit Händen, die nicht zu ihr passen wollten – alten Hände, obwohl sie noch gar nicht alt war –, öffnete sie die Tür nur einen kleinen Spalt.
    »Also, wer genau sind Sie?«, fragte sie ihn auf Russisch. Ihre Mundwinkel schienen ein winziges Lächeln anzudeuten, vielleicht, weil er so jung und unbeholfen aussah.
    An dieser Stelle zwang sich Grigori stets abzubrechen, zwang sich, den Fluss der Erinnerungen zu stoppen. Er musste es tun. Es nahm kein gutes Ende.

 
    Los 12
    Diamant-Onyx-Platin-Schmetterlingsbrosche. Massives Platin,
Flügel aus sechs schwarzen Onyxen im Phantasieschliff, Gesamtgewicht:
27,21 ct., Körper aus Diamanten im alten europäischen
Schliff, Gesamtgewicht ca. 7 ct., Mittelstein in Zargenfassung, Meistermarke
Shreve, Crump & Low. 8000 –10000 Dollar

KAPITEL 2
    E s ist beschlossene Sache – ohne viele Worte und ganz plötzlich entschieden, wie Erwachsene das so tun –, dass Vera und ihre Großmutter zu einer Tante und einem Onkel ziehen, in eine Stadt im Norden, weit weg von Moskau.
    Das passiert also, erkennt Nina, wenn deine Eltern weggehen müssen. Wenn zwei andere Menschen, Fremde, die du noch nie zuvor gesehen hast, kommen und in ihr Zimmer ziehen. Das also würde passieren, wenn Ninas Mutter plötzlich fortgehen müsste. Aber vielleicht könnte Nina stattdessen mit Großmutter hierbleiben … Mit diesem Gedanken tröstet sie sich, während sie und Mutter Vera und Veras Großmutter zum Bahnhof begleiten. Es ist ein klarer, milder Morgen, der 2. September – der Tag, bevor die Schule wieder beginnt. Auf den Straßen ist plötzlich viel los, die Städter sind aus den Sommerferien zurück: dämlich aussehende Jungs mit frisch geschnittenen Haaren und Segelohren; Mädchen, die die vorschriftsmäßigen Schleifen für ihre Pferdeschwänze kaufen. Auch der Bahnhof ist voller Menschen; das Gleis, auf dem Veras Zug ankommen soll, ist so überfüllt, dass sie kaum Platz finden zwischen all den Wartenden mit den verschlissenen Weidenkörben. Alles, woran Nina denken kann, ist, dass Vera nun nicht mit ihr auf die Bolschoi-Schule gehen wird, nicht mehr da sein wird, um mit ihr in dem sandigen Hof selbst ausgedachte Spiele mit komplizierten, unbedingt einzuhaltenden Regeln zu spielen.
    Vera dagegen wirkt unbekümmert, stolz auf ihren unhandlichen Koffer und das Bündel mit dem Proviant für die Fahrt. Ein wenig abseits unterhalten sich Mutter und Veras Großmutter höflich, aber angespannt miteinander.
    »Ich habe ein Telegramm bekommen«, flüstert Vera.
    Nina schaut sie mit großen Augen an; sie hat ein Telegramm bisher noch nicht einmal gesehen. »Wann?«
    Vera greift in ihre Manteltasche und zieht ein unzerknittertes StückPapier hervor. Bevor sie es

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