Die Taeuschung
zu
schnell. Ich habe noch kaum begriffen, daß ich Witwe bin, da
soll ich schon wieder heiraten. Christopher, das würde niemand
so einfach bewältigen.«
»Ich habe dich gefragt. Erinnerst du dich? Heute mittag in
dem Restaurant. Ich fragte dich, ob die Dinge irgendwann
anders aussehen könnten. Du hast geantwortet, nichts werde
sich ändern.«
Sie stöhnte leise. Was sollte sie jetzt sagen, ohne
unglaubwürdig zu wirken?
»Christopher, wenn du mich jetzt tötest, wächst mein Kind
als Vollwaise auf. Du hast Sophie schon den Vater genommen,
und ...«
Sie hatte das Falsche gesagt. Er brüllte sie plötzlich an.
»Nein! Du hast nichts begriffen! Gar nichts! Ihr Vater wollte
sie verlassen. Er wollte dich verlassen. Ihr wart ihm scheißegal.
Er hat sich einen Dreck darum geschert, was aus euch wird. Ich
habe keinen Unschuldigen getötet!« Seine Stimme überschlug
sich fast. »Ich habe keinen Unschuldigen getötet!«
»Natürlich nicht. Ich weiß. Das habe ich dir auch nie
unterstellt.«
»Er kam gerade aus dem Chez Nadine, als ich vorfuhr. Er
wollte zu seinem Auto. Ich sagte ihm, er soll bei mir
einsteigen, wir müßten reden. Er war sofort bereit. Ich merkte,
daß er dringend jemanden suchte, mit dem er reden konnte. Er
wollte sein Gewissen erleichtern, wollte die Absolution haben
... wollte, daß ich ihm sage, ja, alter Junge, ich verstehe dich, tu
es, geh mit ihr weg. Ich fragte ihn, ob er sie gesehen hat in der
Pizzeria, und er sagte, nein, sie warte wohl schon am
Treffpunkt. Ich fuhr mit ihm los. Er redete und redete, über
sein verkorkstes Leben, seine beschissene Beziehung, das
Recht eines jeden Menschen, irgendwann einmal einen
kompletten Neuanfang zu wagen. Er merkte gar nicht, daß ich
hinauf in die Berge fuhr, daß wir plötzlich weit weg von allem
und ganz allein waren. Ich sagte, komm, laß uns ein paar
Schritte laufen, das wird dir gut tun, und er trottete hinter mir
her, die Aktentasche mit seinem letzten Geld in der Hand, er
hatte solche Panik, die könnte ihm geklaut werden, und redete
immer noch, und ich dachte, du redest dich mehr und mehr um
dein ganzes blödes Leben. Wir gerieten immer tiefer in die
Einsamkeit, und schließlich wollte er umkehren, wurde nervös
wegen seiner Geliebten, die sich irgendwo den Arsch abfror,
während sie auf ihn wartete, und außerdem fing es an zu
regnen. Wir drehten um, und nun ging er vor mir her. Ich hatte
den Strick in der Innentasche meiner Jacke. Ich wußte, was ich
zu tun hatte, ich hatte es wohl schon die ganze Zeit gewußt,
sonst hätte ich es nicht mitgenommen. Es war nicht einfach. Er
wehrte sich heftig. Er war ein sehr starker Mann. Ich hätte es
vielleicht nicht geschafft, ihn zu töten, aber zum Glück hatte
ich noch das Messer dabei. Mit dem Messer habe ich den
Nutten die Kleider zerschnitten. Damit man sieht, wer und was
sie sind, verstehst du?«
Seine Stimme war zunehmend gleichmütig geworden. Laura
fror, und ihr war schlecht. Er war krank, er war vollkommen
gestört. Sie würde ihn mit Bitten und Betteln nicht erreichen,
und nicht mit Argumenten.
»Ich verstehe«, sagte sie. Sie fand, daß sie sich anhörte, als
habe sie einen Ballen Watte verschluckt.
»Ich stach ihm das Messer in den Unterleib. Und in den
Bauch. Immer wieder. Er wehrte sich dann nicht mehr. Er war
dann tot.«
Klang etwas von Bedauern in seinen Worten mit? Sie hätte
es nicht mit Sicherheit zu sagen vermocht. Aber schon
veränderte sich seine Stimme. Sie wurde kalt und schneidend.
»Und du kommst jetzt da raus. Andernfalls bin ich in zehn
Minuten bei dir drinnen.«
Sie bemühte sich noch immer, mit ihm zu reden, wobei die
größte Schwierigkeit darin bestand, ruhig zu bleiben und nicht
in Tränen auszubrechen. Sie sah ein, daß sie verloren war. Was
sie von ihm wußte, war, daß er es liebte, über seine Theorien
von der Familie als höchstes und unantastbares Gut zu
sprechen. Es gelang ihr, ihn noch einmal dazu zu bringen, von
seiner Mutter zu erzählen, die ihn verlassen hatte, und von
seinen Kindern, von der Unverschämtheit, mit der
Scheidungsrichter bei der Vergabe des Sorgerechts die Gefühle
der Väter mißachteten. Sie merkte, daß hier sein Wahnsinn
wurzelte, daß ihn der Gedanke, von Jugend an Opfer eines
großen, weltweiten Unrechts gewesen zu sein, beherrschte und
peinigte. Er erzählte von Camille Raymond, für deren kleine
Tochter er hätte dasein wollen und die ihn zurückgewiesen,
seine Sehnsüchte
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