Die Taeuschung
Verhältnis
hatte. Ein Verhältnis, das nie beendet worden war.
Aus irgendeinem Grund war der Flug nicht angetreten
worden. Aber ihr konnte das gleichgültig sein.
Sie begann so zu frieren, daß sie zitterte. Sie konnte nicht
länger stehen. Sie sank auf den Fahrersitz und betrachtete
erstaunt ihre bebenden Beine. Sie schaute durch die
Windschutzscheibe auf die hohen Bäume, die im Wind
schwankten, zwischen ihren Zweigen hindurch konnte sie das
Meer sehen, das von der gleichen verhangenen Farbe war wie
der Himmel. Sie hielt die Trümmer ihrer Ehe in den Händen
und betrachtete sich selbst, wie sie in den letzten zwölf
Stunden gewesen war, aus einer ungewohnt weiten Distanz: ein
kleines Mädchen, das an Märchen glaubte, das unbeirrbar an
unschuldigen Träumen festhielt, das sich die Wirklichkeit so
lange zurechtbog, bis es mit ihr leben konnte, auch um den
Preis, daß es zum Schluß nicht die geringste Wirklichkeit mehr
gab. Wie ungemein gut eignete sie sich für einen Betrug! Und
wenn kein Außenstehender sie betrog, dann übernahm sie es
selbst. Beinahe in eine Euphorie hatte sie sich hineingeredet am
vergangenen Abend, hatte Peter zum Unschuldsengel erkoren,
weil sie seine Schuld nicht ertrug, und hatte sich in einer
unsinnigen Hoffnung gewiegt.
Nüchtern betrachtet – und sie stellte sich dieser Betrachtung
–, hatte sie ihren Mann verloren. Das, wovon sie immer
geglaubt hatte, es sei das Schlimmste und Unerträglichste, was
ihr in ihrem Leben passieren könnte, war eingetreten. Er hatte
sich für eine andere Frau entschieden, hatte mit ihr nach
Argentinien fliegen und vermutlich ein neues Leben beginnen
wollen. Wie schon im Hotel in Perouges hatte er sie als seine
Frau ausgegeben. Irgend etwas, irgend jemand hatte seine
Pläne im letzten Moment durchkreuzt, aber wer oder was das
gewesen war, brauchte sie nicht zu interessieren. Ganz gleich,
wie dies alles nun ausgehen, wie es sich aufklären würde: Ihre
Ehe mit Peter war am Ende. Es gab keine Chance mehr für sie
beide.
Zum erstenmal seit jenem verhängnisvollen Samstag begann
sie zu weinen. Sie krümmte sich über dem Lenkrad zusammen
und gab sich jenem heftigen, schmerzhaften Schluchzen hin,
von dem sie in den vergangenen Tagen gehofft hatte, es werde
irgendwann über sie kommen und sie von der Spannung in
ihrem Innern befreien. Die ganze Verzweiflung brach aus ihr
heraus, nicht nur die der letzten, schrecklichen Momente,
sondern die von Jahren, eine Verzweiflung, deren Existenz sie
nie wahrgenommen, sondern stets beiseite geschoben hatte.
Die Verzweiflung schloß alles ein: den Verlust ihres Berufs
und den Verlust ihrer Eigenständigkeit. Das Gefühl, in den
Augen ihres Mannes minderwertig zu sein. Die zunehmende
Verächtlichkeit, mit der er sie behandelt hatte und die sie sich
erst jetzt zu realisieren erlaubte. Die Einsamkeit langer Tage, in
denen sie sich mit Schuldgefühlen herumgeschlagen hatte, weil
sie die Gesellschaft ihrer kleinen Tochter nicht als vollwertig
empfand, sich mit ihr langweilte und stets zu Depression
neigte. Sie weinte um eine Ehe, in der sie unglücklich gewesen
war und zu abhängig, um sich ihr Unglück auch nur ein
einziges Mal einzugestehen. Sie weinte um eine Menge
verlorener Jahre und wegen einer gewaltigen Selbsttäuschung.
Sie weinte, weil ihr Mann sie mehr als nur körperlich betrogen
hatte, weil er ihr einen wichtigen Teil ihres Lebens geraubt
hatte, den ihr niemand zurückgeben würde. Sie saß da und
heulte, weil sie so einfältig gewesen war. Und als irgendwann –
sie wußte nicht, ob eine halbe oder eine ganze Stunde
vergangen war – der Tränenstrom versiegte, hob sie den Kopf
und hatte das Gefühl, durch eine schmerzhafte Häutung
gegangen zu sein. Es ging ihr nicht wirklich besser, auch hatten
die Tränen sie nicht in der erhofften Weise erleichtert, aber
irgend etwas hatte sich verändert, seitdem sie sich selbst ins
Gesicht gesehen und dabei nichts beschönigt hatte. Vielleicht
hatte sie ein Stück Kindlichkeit verloren. Besser, als weiterhin
Lebenszeit zu verlieren.
Sie stieg aus, knallte die Wagentür zu und überließ Auto und
Gepäck ihres Mannes ihrem Schicksal.
7
»Hallo, Henri, da bin ich«, rief Cathérine.
Sie war durch den Kücheneingang gekommen, er hatte sie
nicht gehört und zuckte daher beim Klang ihrer Stimme
zusammen. Ihr Anblick löste, wie so häufig, ein warmes
Gefühl in ihm aus, nicht das übliche Gefühl, das Frauen
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