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Die Taeuschung

Die Taeuschung

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Autoren: Charlotte Link
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nachsehen, ob er
Gepäck mitgenommen hatte. Vielleicht konnte sie daraus
weitere Schlüsse ziehen.
5
     
Nadine hatte eine Weile bei den Deux Sœrs verbracht, einer
Kneipe, die, anders als der Name besagte, von drei Schwestern
geführt wurde, die allesamt aus dem Rotlichtmilieu kamen.
    Sie hatten eine Köchin, die phantastische Crepes zubereiten
konnte, aber an diesem Morgen hatte sich Nadine die ganze
Zeit über nur an einem Kaffee festgehalten. Ihr Magen war wie
zugeschnürt.
    Als sie endlich aufstand und den Kaffee bezahlte, war es fast
halb elf, sie hatte eine Stunde dagesessen und nur vor sich hin
gestarrt. Sie hatte Henri versprochen, um elf zurück zu sein,
und eigentlich hätte sie allmählich an den Rückweg denken
müssen, aber beim Gedanken an das Chez Nadine fühlte sie
sich noch elender, und sie dachte, daß sie wahrscheinlich
würde schreien müssen, wenn sie sich nun dort in die Küche
stellte und Gemüse für den Pizzabelag schnippelte oder die
Tische im Gastraum deckte.
    »Unsere kleine Welt«, hatte Henri einmal zu dem Restaurant
gesagt. Es hatte liebevoll und stolz geklungen, aber ihr war
ganz schlecht geworden. Sie hatte immer die große Welt
gewollt, die wirklich große Welt, in der es interessante
Menschen gab und kein Tag wie der andere war. Wenn sich
Henri mit einer kleinen Welt zufriedengab, sollte er das tun.
Auf diesem Weg wollte sie ihm nicht folgen.
    Aber wie den Weg verlassen? Sie hatte kein eigenes Geld,
sie hatte nichts gelernt. Sie konnte nur immer auf Männer
bauen, und Männer erwiesen sich meist als unzuverlässig.
    Sie lief die Promenade entlang, der Wind wirbelte ihr immer
wieder die Haare ins Gesicht, und ärgerlich strich sie sie
zurück. Sie suchte in ihren Jackentaschen herum, doch sie hatte
kein Band, keine Spange dabei. Egal. Denn nun schossen ihr
schon wieder die Tränen in die Augen, und es war gut, wenn
die Haare dies verdeckten. Sie hatte nicht einmal ein
Taschentuch bei sich, also zog sie geräuschvoll die Nase hoch.
Sie hätte gern richtig geheult, so heftig wie am Sonntagmorgen
im Haus ihrer Mutter. Aber das war eine Ausnahme gewesen,
so leicht würde sich das nicht wiederholen. Sie neigte im
allgemeinen nicht dazu, ihren Schmerz auszuleben. Das
äußerste waren meist tränende Augen, so wie jetzt, und das
waren eher Tränen der Wut, des Zorns. Das, was wirklich weh
tat, saß tief drinnen in ihr als großer, schwerer Klumpen,
unbeweglich und unzerstörbar. Sie kam nicht an ihn heran, er
kam nicht heraus. Er saß nur dort wie eine fette, alte Kröte,
wurde immer dicker und würde sie irgendwann ganz und gar
ausfüllen. Dann wäre nichts mehr von ihr übrig.
    Sie stieß mit einer entgegenkommenden Frau zusammen und
murmelte gedankenverloren: »Entschuldigung.«
»Du erkennst deine eigene Mutter nicht«, sagte Marie
kopfschüttelnd. »Ich winke dir schon eine ganze Weile, aber du
reagierst nicht!« Sie musterte ihre Tochter. »Jedesmal, wenn
ich dich treffe, siehst du schlechter aus. Was ist nur los mit
dir?«
Nadine ignorierte diese Frage, stellte stattdessen selber eine.
»Was tust du denn hier?«
Ihre Mutter verließ die Isolation ihres einsamen Hauses so
selten, daß es tatsächlich auf irgendein außergewöhnliches
Ereignis in ihrem Leben hindeutete, sie hier anzutreffen.
Marie wies auf ihre Handtasche und sagte mit geheimnisvoll
gesenkter Stimme: »Da drin ist eine Sprühdose mit Tränengas.
Habe ich mir eben gekauft. Zur Selbstverteidigung.«
»Seit wann denkst du über Selbstverteidigung nach?«
Marie starrte ihre Tochter an. »Sag nur, du weißt es noch
nicht? Selbst ich in meiner Abgeschiedenheit ...«
»Was denn, Mutter?«
»Drüben im Chemin de la Clâre haben sie eine Frau
gefunden. Ermordet. Ihr vierjähriges Kind ist ebenfalls tot. Der
Täter hat offenbar beide im Schlaf überrascht. Die Frau muß
wohl noch versucht haben, das Fenster ihres Zimmers zu
erreichen, aber er war schneller.« Marie sprach nun noch leiser.
»Er hat sie mit einem Strick erwürgt. Ihr Nachthemd war mit
einem Messer in Fetzen geschnitten worden. Ob er sie
mißbraucht hat, muß noch festgestellt werden.«
Nadine merkte, wie ihre eigenen Probleme für einen
Moment in den Hintergrund traten. »O Gott! Das ist ja
furchtbar! Im Chemin de la Clâre sagst du?«
Der Weg befand sich außerhalb der Stadt, gehörte aber zu St.
Cyr. Hier lagen die Häuser in großem Abstand voneinander,
vereinzelt zwischen den Feldern, jedes über

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