Die Taeuschung
einen eigenen
langen, holprigen Pfad zu erreichen. Eine zauberhafte Gegend,
ein weites, lichtes Tal, in dem Nadine nie das Gefühl der
Abgeschiedenheit gehabt hätte wie daheim in Le Beausset.
Und nun war offenbar gerade in diese liebliche Idylle der
schlimmste Schrecken gedrungen.
»Weiß man, wer es war?« fragte sie.
»Nein. Es gibt keine Spur von dem Verrückten. Die nächste
Nachbarin hat mich angerufen, Isabelle, du weißt, die
manchmal für mich einkauft.« Marie verfügte über ein
Netzwerk von Menschen, die all die Dinge für sie erledigten,
zu denen sie sich nicht in der Lage fühlte. »Isabelle wußte
ziemlich gut Bescheid.«
Das wunderte Nadine nicht. Isabelle war eine erstklassige
Klatschtante. Auf geheimnisvolle Weise kam sie stets als erste
an alle Neuigkeiten.
»Also, im Haus hat angeblich nichts gefehlt. Die Handtasche
des Opfers stand mitten im Wohnzimmer, mit Geld und
Kreditkarten, aber niemand hatte sie wohl auch nur geöffnet.
Genauso war es mit Schränken und Schubladen. Der oder die
Täter kamen nur, um zu morden.« Sie schauderte vor ihrer
eigenen Formulierung. »Nur um zu morden ...«
»Wer war denn das Opfer?« fragte Nadine. »Jemand aus der
Gegend?« Es standen eine Menge Ferienhäuser in der
betreffenden Ecke, daher ergab die Frage einen Sinn.
»Nein. Sie lebte in Paris. Eine junge Witwe mit ihrer
vierjährigen Tochter. Der Mann starb an Leukämie, während
sie schwanger war.« Isabelle war es augenscheinlich gelungen,
jedes Detail ans Tageslicht zu zerren. »Sie ist ... war wohl sehr
wohlhabend. Brauchte keinem Beruf nachzugehen. Eine
menschenscheue, depressive Person, sagt Isabelle. Sie führte
ein so zurückgezogenes Leben, daß offenbar in Paris kein
Mensch bemerkte, daß sie nicht, wie geplant, Ende September
zurückkam. Sie hatte nämlich gerade abreisen wollen.
Verstehst du? Sie lag zehn Tage lang erdrosselt in ihrem
Ferienhaus, und niemand hat sie vermißt!« Marie schüttelte
sich und setzte dann mit düsterer Miene hinzu: »Na ja, nicht,
daß es bei mir anders wäre. Ich könnte lange tot sein, ehe es
jemandem auffällt!«
»Aber Mutter!« protestierte Nadine schuldbewußt, weil es
stimmte, was Marie sagte. »Ich bin doch auch noch da!«
»Du rufst manchmal zwei Wochen lang nicht an. Und bei
mir blicken läßt du dich noch seltener. Nein, nein«, Marie hob
abwehrend die Hände, als sie sah, daß Nadine den Mund
öffnete, um sich zu verteidigen, »das sollte kein Vorwurf sein.
Du hast natürlich dein eigenes Leben und kannst dich nicht mit
deiner alten Mutter belasten.«
»Ich sollte mich mehr um dich kümmern«, sagte Nadine.
»Ich werde mich bessern.«
Der Gedanke löste eine weitere düstere Erkenntnis aus. Sich
um Marie kümmern hieß: bleiben. Das Leben fortführen, wie
es war. Den Pizzaofen als ihr Schicksal akzeptieren. Die Stube
mit den mittelmäßigen Feriengästen. Henri und seine kleine
Welt.
Ihre Augen wurden schon wieder naß vor Wut, und sie ballte
die Hände in den Taschen der Joggingjacke zu Fäusten.
Marie redete unterdessen weiter.
»Gefunden hat sie die Frau, die für sie putzt und auch sonst
ein Auge auf das Haus hat, während es unbewohnt ist.
Monique Lafond, kennst du sie? Lebt in La Madrague. Sie
putzt auch bei Isabelle, daher weiß Isabelle über alles
Bescheid. Monique hat einen Schock erlitten, ist für längere
Zeit krank geschrieben. Isabelle sagt, Monique sieht den
ganzen Tag über die schrecklichen Bilder vor sich, und nachts
kann sie nicht schlafen. Kein Wunder! Es muß ein gräßlicher
Anblick gewesen sein!«
»Und jetzt hast du auch Angst«, sagte Nadine, auf das
Tränengas zurückkommend. »Aber, Mutter, er hatte es
vielleicht nur ganz speziell auf diese Frau abgesehen. Wenn er
nichts gestohlen hat, dann ist das kein normaler Einbrecher.«
»Die Polizei ermittelt in der Vorgeschichte der Toten.
Natürlich kann es ein abgewiesener Liebhaber sein oder ein
ehemaliger Geschäftspartner ihres Mannes, der sich für ein
vermeintliches Unrecht rächen wollte. Aber es kann auch
jemand sein, der es auf alleinstehende Frauen abgesehen hat,
einer, für den das Töten eine ... eine Art Befriedigung darstellt.
Immerhin wurde auch die kleine Tochter umgebracht, und mit
dieser konnte wohl kaum jemand eine persönliche Rechnung
zu begleichen haben.«
»Möchtest du für eine Weile bei uns wohnen?« bot Nadine
an. Sie glaubte nicht, daß ihre Mutter in Gefahr war, aber es
würde ihr leid tun, wenn
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