Die Taeuschung
Marie in den nächsten Wochen nun
kein Auge zutat.
»Nein, nein«, sagte Marie, »du weißt ja, am besten schlafe
ich im eigenen Bett. Ich stelle das Tränengas auf meinen
Nachttisch. So felsenfest, wie ich meine Türen immer
verriegle, höre ich es, wenn eine davon aufgebrochen wird.
Dann habe ich Zeit, mich zu verteidigen.«
Das brachte Nadine auf eine letzte Frage.
»Wie ist er da eigentlich hineingekommen? Bei der
Ermordeten, meine ich.«
»Das ist es, was alle verwundert«, sagte Marie, »es sind
nämlich keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens
zu finden. Kein zerschlagenes Fenster, keine aufgebrochene
Tür. Nichts.«
»Aber wie es aussieht, hat sie ihm wohl nicht selbst
geöffnet.«
»Nein, denn sie wurde ja offensichtlich im Schlaf
überrascht.«
»Wahrscheinlich hatte er einen Schlüssel, und das hieße, er
ist doch ein alter Bekannter von ihr«, meinte Nadine. Sie gab
ihrer Mutter einen Kuß. »Ich glaube wirklich nicht, daß irgend
jemand etwas zu befürchten hat. Das war ein privates Drama
zwischen zwei Menschen.«
»Was machst du hier eigentlich?« fragte Marie, plötzlich das
Thema wechselnd. »Arbeitest du heute nicht in eurem
Restaurant?« Sie rechnete in Gedanken nach.
»Heute ist nicht Montag«, stellte sie dann fest.
»Henri schafft es heute mal ohne mich. Ich muß ein paar
Stunden alleine sein.«
»Laß ihn nicht zu oft im Stich, Kind. Henri ist ein guter
Mann.«
»Ich ruf dich morgen an, Mutter. Mach’s gut!« Sie setzte
ihren Weg fort, ohne noch auf ein weiteres Wort zu warten.
Ihre Mutter hatte Henri immer phantastisch gefunden, und sie
hatte im Moment nicht das geringste Bedürfnis, sich eine
Predigt über seine Vorzüge anzuhören.
6
Sie stand auf dem provisorisch angelegten, sandigen Parkplatz
neben dem aufgebrochenen Auto ihres Mannes, hatte soeben
die letzte der drei Reisetaschen im Kofferraum durchwühlt und
festgestellt, daß er, wohin auch immer er entschwunden sein
mochte, praktisch alles zurückgelassen hatte, was er zuvor für
die Reise eingepackt hatte. Unterwäsche, Hemden, Strümpfe,
Pullover, Zahnbürste, Kopfschmerztabletten, Schlafanzug,
Regensachen, Bücher, Zeitschriften, Ohropax und sogar die
Vitaminpillen, ohne die er kaum je das Haus verließ, weil er
der Ansicht war, sich stets gegen herumfliegende
Erkältungsviren schützen zu müssen.
Die Aktentasche, von der Henri erzählt hatte, hatte sie nicht
gefunden.
Er ist mit fast nichts unterwegs, dachte sie und fröstelte
plötzlich, obwohl ihr gerade noch heiß gewesen war, außer mit
seiner Brieftasche vermutlich, der ominösen Aktentasche und
seinem Handy. Und das Handy bleibt beharrlich ausgeschaltet. Was ist los mit ihm?
Henri hatte ihr die Fahrertür des Wagens aufgebrochen,
damit sie an den Hebel gelangte, der den Kofferraum öffnete.
»Bist du sicher, daß wir das tun sollten?« hatte er zweifelnd
gefragt, und sie hatte ungeduldig geantwortet: »Was soll ich
sonst tun, Herrgott noch mal? Mein Mann ist spurlos
verschwunden. Vielleicht finde ich in diesem verdammten
Auto einen Hinweis!«
Außerordentlich geübt und schnell hatte er den Wagen
geöffnet, sich dann aber sofort mit seiner Arbeit entschuldigt
und in das Restaurant zurückgezogen. Zum zweitenmal an
diesem Morgen ärgerte sie sich über ihn, empfand ihn als
gefühllos. So war er sonst nie gewesen. Der nette, hilfsbereite
Henri. Jetzt vermittelte er ihr das Gefühl, nur lästig zu sein.
Einer Eingebung folgend, kramte sie in den Taschen der
Jacke, die auf dem Rücksitz lag, fand aber nur ein Päckchen
Tempotaschentücher. Sie schaute in das Handschuhfach und in
die Ablagefächer der Türen. Karten, Betriebsanleitungen, ein
einzelner Winterhandschuh, ein Eiskratzer, ein leeres
Brillenetui ... Ein Briefumschlag schließlich weckte Lauras
Interesse. Er war nicht zugeklebt und sah, weiß und leuchtend,
wie er war, nicht so aus, als stecke er schon lange zwischen den
verknitterten, vergammelten Gegenständen in der Ablage an
der Fahrertür. Sie zog zwei Flugtickets heraus und starrte
darauf, als hätte sie noch nie vorher etwas Ähnliches gesehen.
Die Tickets waren auf die Namen Peter und Laura Simon
ausgestellt, der Flug wäre am vergangenen Sonntagmorgen von
Nizza nach Buenos Aires gegangen. Da klar war, daß Peter
nicht mit ihr hatte fliegen wollen, wußte sie sofort, daß nur ihr
Name benutzt worden war. Für die Frau, mit der ihr Mann in
Perouges gewesen war. Für die Frau, mit der er ein
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