Die Taeuschung
in ihm
weckten und in dem stets auch Spannung, manchmal Erregung
schwang. Die Empfindung, die er Cathérine entgegenbrachte,
erinnerte ihn an seine Kindheit. Sein Vater war früh gestorben,
und seine Mutter hatte arbeiten müssen, um sich und das Kind
über Wasser zu halten. Manchmal war es abends sehr spät
geworden, und er hatte sich ein wenig gefürchtet, nicht vor
irgendeiner realen Gefahr, sondern vor dem Gefühl des
Alleinseins, des Verlassenwerdens. Wenn er dann irgendwann
den Schlüssel in der Wohnungstür hörte, ihre leisen Schritte,
wenn er den Geruch von Rauch und fettem Essen roch, den sie
aus der Kneipe, in der sie jobbte, mitbrachte, kam eine
erfüllende Wärme über ihn. Er war nicht länger allein. Da war
ein Mensch, der ihm Sicherheit und Halt gab. Seine Mutter war
von großer Zuverlässigkeit gewesen. Er hatte nie aufgehört, die
Zuverlässigkeit der ihn umgebenden Menschen für sein
Wohlgefühl zu brauchen. In den Jahren, in denen er mit dem
Surfbrett unter dem Arm, braungebrannt und mit einem
Schwarm attraktiver Mädchen um sich herum, an der Côte
herumgestromert und für seine Autoraserei berüchtigt gewesen
war, hätte niemand dieses Bedürfnis in ihm vermutet, und auch
ihm selbst war es nicht bewußt gewesen. Damals hatte
Cathérine, die häßliche, zuverlässige Cousine, seine Sehnsucht
gestillt. Je älter er wurde, um so deutlicher begriff er, daß ihn
bei jeglicher Unzuverlässigkeit noch immer der Schrecken des
Verlassenseins packte, dem er als Kind ausgeliefert gewesen
war, und daß es nach wie vor Cathérine war und immer sein
würde, die ihn davor beschützte.
Auch jetzt, als sie so vor ihm stand, in ihrer ganzen
Häßlichkeit und plumpen Größe, wurde ihm dies wieder
bewußt. Sie war sein Fels in der Brandung. Treu wie Gold,
stark und unerschütterlich. Sie hätten ein phantastisches Team
abgegeben. Aber sie als Frau zu sehen und zu empfinden, sich
Sexualität mit ihr vorzustellen war ihm stets unmöglich
gewesen. Diese Seite in ihm war – noch immer -vollständig
besetzt von Nadine. Trotz allem.
»Cathérine!« Er lächelte sie an und sah, wie sie aufblühte
unter diesem Lächeln. »Wie schön, daß du gekommen bist!
Wenn ich dich nicht hätte! Meine ewige Retterin in der Not.«
Er sprach leichthin, fröhlich, aber sie wußten beide, daß
hinter seinen Worten eine bittere Wahrheit stand: Cathérine
war die Retterin in der Not, weil sich Nadine bei jeder
Gelegenheit entzog. Auch heute wieder. Entgegen der
getroffenen Vereinbarung, war Nadine nicht um elf Uhr im Chez Nadine erschienen, und als sich um zwölf Uhr das Lokal
zu füllen begann und von Nadine immer noch nichts zu sehen
war, hatte Henri, wie so häufig, bei seiner Cousine angerufen
und sie um Hilfe gebeten. Eine Viertelstunde später war sie da.
Sie schaute besser aus als am vergangenen Samstag, stellte
Henri fest. Die Entzündungen im Gesicht gingen zurück. Sie
war häßlich wie die Nacht, aber man dachte nun nicht mehr
unwillkürlich an die Beulenpest, wenn man sie sah. Er könnte
sie sogar zum Servieren einsetzen. Es blieb ihm ohnehin nichts
anderes übrig, da er sich kaum aus der Küche würde rühren
können.
Es ist schwer, dachte er deprimiert, das Leben ist schwer,
und ich scheine keinen Weg zu finden, mit den Problemen
umzugehen.
»Du weißt«, sagte Cathérine, »daß ich zur Stelle bin, wenn
du mich brauchst.« Der Nachsatz blieb unausgesprochen, hing
aber zwischen ihnen: obwohl ich nichts dafür bekomme. Nicht
das, was ich haben wollte.
»Ja, also«, sagte er, plötzlich aus unerfindlichen Gründen
verlegen, »du hast vielleicht gesehen, daß wir heute wieder
volles Haus haben. Wir sollten uns an die Arbeit machen.«
Sie sah ihn an, und es war plötzlich, als passiere sie eine
Grenze, die immer zwischen ihnen verlaufen war und die sie
auch stets respektiert hatte. Er konnte in ihren Augen förmlich
die Sekunde ablesen, in der sie beschloß, sich nicht länger an
die unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihnen zu halten,
über Nadine nicht anders als in völlig neutraler Weise zu
sprechen. Cathérine hatte diese Abmachung einmal gebrochen,
aber da war es um eine Information gegangen, von der sie
geglaubt hatte, sie nicht für sich behalten zu dürfen, und sie
hatte diese Information mit unbewegtem Gesicht und
emotionsloser Stimme weitergegeben. Eben jedoch hatte sie
sich grundsätzlich für eine neue Strategie entschieden.
»Wie lange
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