Die Taeuschung
gelehnt
dagestanden und sich für einen Moment ausgeruht. Ihrer beider
Blicke hatten sich gekreuzt, und später hatten sie einander
bestätigt, daß es in dieser Sekunde passiert war. Alles, was
nachher geschah, war in diesem Moment festgelegt worden,
und im Grunde hatte es kaum einen Sinn gemacht, noch zwei
lange Jahre Widerstand zu leisten, ehe sie vor der Übermacht
ihrer Gefühle – oder, wie sie beide wußten: vor der Übermacht
ihrer sexuellen Gier nacheinander – kapitulierten. Zwei Jahre,
in denen sie sich verzehrten und in Tagträumen auslebten, was
dann später Wirklichkeit wurde.
Irgendwann einmal hatte er ihr erzählt, wie er sie an jenem
ersten Tag gesehen hatte: »Du standest an diesen Baum gelehnt
und sahst aus wie ein Teil dieser südlichen Landschaft, Teil der
Sonne, der Olivenbäume, der Lavendelfelder und des Meeres.
Du warst stark gebräunt, aber unter der Bräune ahnte man
etwas Fahles, Blasses, und das machte dich so lasziv. Du sahst
müde aus. Du trugst ein blaues Kleid, das bis zu den Knöcheln
reichte und ärmellos war, du hattest deine dunklen Haare am
Hinterkopf aufgesteckt, und erst später fand ich heraus, daß sie
dir fast bis zur Taille reichen. Unterhalb deiner Brüste zeigte
der Stoff deines Kleides feuchte Flecken. Der Tag war
ungeheuer heiß.«
Sie hatte einen Mann gesehen mit interessanten graugrünen
Augen und vielen grauen Strähnen in den dunklen Haaren; sie
schätzte ihn älter ein, als er war, und es überraschte sie später
zu hören, daß er an diesem Tag seinen vierunddreißigsten
Geburtstag gefeiert hatte. Sie wußte sofort, daß er der Mann
war, auf den sie gewartet hatte, was nicht an seinem Aussehen
lag, denn sie fand ihn keineswegs überwältigend attraktiv,
sondern an der Verbindung, die sogleich spürbar zwischen
ihnen entstand. Sie richtete sich auf und sah ihn ernst, ohne
jede Koketterie an, denn ihr war klar, daß er das gleiche fühlte
wie sie und daß sie einander nichts vormachen mußten; zudem
hatte sie so lange auf ihn gewartet, daß sie meinte, keinesfalls
mehr die Zeit für Umwege und kindische Versteckspiele zu
haben. Eigentlich hätte es zwischen ihnen keiner Worte mehr
bedurft.
Und dann entdeckte sie die junge Frau mit den glatten,
braunen Haaren und den auffallend schönen, großen
topasfarbenen Augen, und sie begriff, daß es ein Problem
geben würde.
Die beiden kamen den Sommer über fast jeden Mittag,
schließlich auch abends, und Nadine wußte, daß er dies
steuerte. Sie war fiebrig und angespannt in diesen Wochen, sie
wußte, daß etwas Entscheidendes auf sie zukam und daß es
vielleicht über ihre Kräfte gehen würde. Nie bediente sie den
Tisch, an dem die Simons saßen, sie ließ das Henri tun oder
eines der Aushilfsmädchen. Henri fragte sie einmal, was sie
denn gegen die beiden habe. »Sie sind doch sehr nett. Und
ungeheuer treue Gäste!«
»Ich mag sie einfach nicht besonders«, hatte Nadine erwidert
und dann hinzugefügt: »Besonders sie nicht. Sie macht auf
scheues Reh, aber ich glaube, sie kann sehr unangenehm
werden.«
Dann sprach Laura Simon sie eines Tages an, und Nadine
wußte sehr bald, daß diese Frau kaum je unangenehm werden
würde, daß sie einfach nur nett und liebenswürdig war. Sie
hätte leicht etwas zu fade und gleichmäßig wirken können,
hätte sie nicht diese phantastischen Augen gehabt.
»Mein Mann und ich suchen ein Haus hier in der Gegend.
Ein Ferienhaus. Meinen Sie, daß Sie uns vielleicht helfen
können?«
Dieselbe Frage richtete sie auch an Henri, und der bemühte
sich mit erstaunlicher Vehemenz in dieser Angelegenheit. Er
mochte die Simons wirklich, wie Nadine herausfand. Er suchte
ihre Freundschaft, wobei sich Laura ungezwungen und
entgegenkommend verhielt. Peter blockte genauso wie Nadine,
konnte jedoch nicht aufhören, das Chez Nadine zu besuchen.
Er vermied es, mit Nadine zu sprechen, aber er mußte sie jeden
Tag sehen. Sie quälten sich wahnsinnig, während Henri und
Laura nicht das geringste begriffen.
Es dauerte fast zwei Jahre, bis das Traumhaus gefunden war;
Henri hatte es entdeckt, und damit war der Damm gebrochen.
Jetzt waren sie Freunde. Laura lud sie zur House-warmingParty ein und Henri bat sie zu seiner Geburtstagsfeier im
August, und auf einmal hatte sich ein reges Hin und Her
entsponnen, in dem niemandem auffiel, daß keinerlei Initiative
dazu je von Peter und Nadine ausging. Zumal die beiden in
ihrer verzehrenden Sehnsucht
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