Die Taeuschung
ein Chaos aus unüberschaubaren Schulden,
einem jahrelangen außerehelichen Verhältnis und einem
perversen Mörder geraten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das
alles verarbeiten sollte, sie hatte nur das Bedürfnis, sich zu
verkriechen und jeden Gedanken auszuschalten. Verkriechen
konnte sie sich. Ihre Gedanken wurde sie nicht los.
An diesem Freitag nun fühlte sie sich krank und entkräftet.
Sie stand nur auf, um die Toilette zu benutzen und sich einen
Pfefferminztee zu kochen. Sie wußte, daß sie dreckig und
ungepflegt war, sie hatte ihre Kleider nicht einmal im Bett
ausgezogen. Das Telefon klingelte noch immer in
regelmäßigen Abständen, sicher war es Elisabeth, die langsam
den Verstand verlor, und vielleicht auch hin und wieder Anne.
Anne! Sie dachte daran, was die Freundin ihr bei dem letzten
Gespräch, das hundert Jahre zurückzuliegen schien, gesagt
hatte: »Finde deinen Mann, und wenn möglich, finde ihn tot!«
Sie spürte ein hysterisches Lachen in sich aufsteigen. Anne
und ihre knallharten Formulierungen. Sie mußte ihr bald sagen,
daß sie ihre Anweisung zuverlässig befolgt hatte.
Gegen halb drei stand sie auf und setzte sich in den
Korbstuhl auf der Veranda. Der 12. Oktober. Ein sonniger, sehr
milder Tag. Drinnen klingelte unverdrossen das Telefon. Sie
betrachtete ihre Füße, die in schmutzigen, ehemals weißen
Socken steckten. Zwei Stunden verbrachte sie nur damit, das
Spiel ihrer Zehen unter dem Frotteestoff zu beobachten. Ganz
langsam durchbrachen ihre Gefühle den Panzer, den der
Schock über sie gelegt hatte. Es war, als grabe sich ein Küken
mühsam und beharrlich seinen Weg aus der Eierschale.
Es war fast fünf Uhr, als sie zu schreien begann.
Sie weinte nicht einfach, wie am Dienstag, als sie in Peters
Auto gesessen und sich am Lenkrad festgeklammert hatte. Sie
brüllte ihren Schmerz heraus, ihre Wut, ihre Verletztheit, die
Demütigung, das Grauen, ihre Angst. Ihren Haß, ihre
Enttäuschung. Sie beugte sich nach vorn, umklammerte mit
beiden Armen ihre Knie und ließ all ihre aufgewühlten,
heftigen Gefühle über sich hereinbrechen und aus sich
herausströmen.
Irgendwann war sie zu erschöpft, um weiterzumachen. Ihr
Hals schmerzte, und sie spürte jeden einzelnen
Gesichtsmuskel, so sehr hatten sich ihre Züge verzerrt während
des Ausbruchs. Aber in ihre Erstarrung war Bewegung
gekommen, und in dieser Bewegung lag das erste zaghafte
Versprechen, daß der Albtraum nicht ewig währen würde.
Gegen halb sieben, als es bereits dunkel wurde, merkte sie,
daß sie fror. Im Grunde fror sie seit Tagen, aber zum erstenmal
fiel es ihr unangenehm auf. Ihre Wahrnehmung, so lange unter
der Watteglocke begraben, schärfte sich langsam wieder. Sie
ging ins Haus, schloß Fenster und Türen, schichtete Holz und
alte Zeitungen im Kamin aufeinander. Sie entzündete ein Feuer
und kauerte sich dann davor nieder, rückte so nah es ging an
die Flammen heran. Langsam kroch Wärme in ihre Glieder. Ihr
Magen schmerzte vor Hunger, auch das hatte sie die ganze Zeit
über nicht registriert. Irgendwann später, wenn sie die Kraft
gefunden hatte, aufzustehen, würde sie nachsehen, ob es etwas
Eßbares im Haus gab. Unbedingt brauchte sie auch einen
Schluck Wasser. Sie spürte, wie stark ihr Körper nach
Flüssigkeit verlangte.
Um kurz nach acht Uhr klingelte es vorn am großen Tor.
Einen Moment lang hatte sie die Idee, es sei Elisabeth, die sich,
entnervt, weil sie ihre Tochter nicht ans Telefon bekam, auf
den Weg nach La Cadiére gemacht hatte. Sie fühlte die
Versuchung, einfach so zu tun, als sei sie nicht da, wußte aber
zugleich, daß dies unmöglich war. Sie rappelte sich auf,
betätigte den elektrischen Öffner. Sie hörte einen Wagen die
Auffahrt heraufkommen, öffnete die Haustür. Christopher
stand vor ihr, blaß im Gesicht und zaghaft lächelnd, in der
Hand einen großen Korb.
»Ich habe es in der Zeitung gelesen«, sagte er. »Ich wußte,
daß du Hilfe brauchst. Nachdem du gestern und heute nicht ans
Telefon gingst, beschloß ich, einfach vorbeizukommen. «
Sie trat einen Schritt zurück.
»Komm herein«, sagte sie.
Wie sich herausstellte, befanden sich in dem Korb alle
Zutaten für ein schnell zubereitetes Essen: Spaghetti, Tomaten,
Zwiebeln, Knoblauch, Zucchinis und Oliven, Sahne und Käse.
Christopher sagte, er wolle das Kochen übernehmen, und baute
all die mitgebrachten Utensilien auf dem Küchentisch auf.
Dann sah er Laura noch einmal an. »Wie
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