Die Taeuschung
Sommer zu heiß,
im Winter zu naß –, und ihre hübsche Wohnung am Meer kam
ihr leer und eng vor. Ihr ging plötzlich auf, wie trist der Alltag
ablief zwischen dem öden Maklerbüro, in dem sie nur
Angebote in den Computer eingeben und niemals ein Projekt
eigenständig betreuen durfte, und den verschiedenen
Putzstellen, bei denen sie wenigstens einige nette Leute
kennengelernt hatte, aber natürlich auch nur eine stumpfsinnige
Arbeit verrichtete. Einzig die großen Reisen hatten ihr immer
Spaß gemacht.
Während sie in ihrer Wohnung herumschlich, versuchte sie
sich des Gefühls zu erinnern, das sie überkam, wenn sie ihren
Platz in einem Flugzeug einnahm, sich anschnallte, die anderen
Passagiere beobachtete und dem Start entgegenfieberte, dem
herrlichen, leichten Ziehen im Bauch, das sie immer spürte,
wenn die Maschine abhob. Sie hoffte, daß sie, würde sie dieses
erwartungsvolle Vibrieren ganz stark in ihrer Erinnerung
erzeugen, die Bilder und den Geruch nach Verwesung
vertreiben könnte.
»Im Sommer fliege ich nach Neuseeland«, sagte sie laut zu
sich selbst und starrte auf den Berg von Prospekten und
Bildern, der sich auf dem Glastisch vor ihrer Couch türmte,
»ich fliege auf die andere Seite der Erde!«
Nichts in ihr rührte sich. Gar nichts. Sie hätte genausogut
denken können: Morgen bringe ich den Müll hinunter.
Die Reisen waren das Schönste in ihrem Leben gewesen.
Jetzt auf einmal dämmerte ihr, daß sie vor allen Dingen
betäubenden Charakter gehabt hatten: Sie war vor der Leere
und Einsamkeit ihres Lebens buchstäblich geflohen, so weit sie
nur konnte. Bei der Wahl ihrer Urlaubsziele hatte deren
Entfernung zu St. Cyr die entscheidende Bedeutung gehabt.
Erst dann hatte sie sich mit Hilfe von Broschüren und
Bildmaterial einen echten Eindruck von der betreffenden
Region verschafft und Interesse dafür in sich erzeugt. Aber im
Grunde war es darum gegangen, möglichst ganze Weltmeere
zwischen sich und ihr alltägliches Leben zu legen.
Und mit wem eigentlich teilte sie ihre Erlebnisse? Wenn sie
sonnengebräunt und mit Bergen von Photos zurückkehrte, gab
es niemanden, der auf sie wartete. Ihrem egozentrischen Chef
im Büro durfte sie damit nicht kommen; am ehesten erzählte
sie noch Isabelle davon, wenn sie nach den Putzarbeiten
zusammen einen Kaffee tranken. Isabelle konnte sie vielleicht
als Freundin bezeichnen, aber auch das nur mit sehr viel gutem
Willen, und sonst gab es niemanden. Eine schwache Leistung
für eine nicht einmal unattraktive Frau von siebenunddreißig
Jahren.
Irgend etwas war völlig schief gelaufen in ihrem Leben.
Das Befremdliche war, daß dieser Gedanke sie erst seit dem
vergangenen Montag bedrängte. Zuvor mochte er bereits
dagewesen sein, fest verschlossen jedoch in ihrem
Unterbewußtsein. Die jähe, unvorhersehbare Konfrontation mit
schlimmster Gewalt und mit dem Tod hatte alles verändert. Der
Verdrängungsmechanismus, von dem sie nicht einmal gewußt
hatte, daß sie ihn ständig anwandte, funktionierte nicht mehr.
Auf einmal war sie gezwungen, sich und ihr Leben mit
unbarmherziger Klarheit zu betrachten, und was sie sah, war
öde und kalt.
An diesem Freitag hatte sie eigentlich in die Stadt gehen
wollen, aber sie konnte sich nicht aufraffen, auch nur zu
duschen und sich anzuziehen. Bis zum Abend lief sie im
Nachthemd herum, und da sie nicht einmal die Energie fand,
sich etwas zu essen zu kochen, aß sie nur eine Chipstüte und
einen Becher Eiscreme aus der Tiefkühltruhe leer. Danach war
ihr zu allem Überfluß auch noch schlecht.
Als es um halb neun am Abend an ihrer Wohnungstür
klingelte, war sie tief erstaunt. Eigentlich bekam sie kaum je
Besuch. Vielleicht die Nachbarin, die sich wieder einmal
Zucker oder Milch leihen wollte. Unlustig erhob sie sich vom
Sofa, wo sie gelegen und in einer Modezeitschrift geblättert
hatte, und öffnete.
Vor ihr stand eine blasse junge Frau, die Augen machte, als
wolle sie eigentlich am liebsten gleich wieder davonlaufen.
»Sind Sie Monique Lafond?« fragte sie.
»Ja. Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Jeanne Versini. Ich bin heute aus Paris
angereist. Darf ich hereinkommen?«
Monique zögerte. Jeanne fügte hinzu: »Ich bin eine
Bekannte von Camille Raymond.«
»Oh«, sagte Monique und forderte sie mit einer
Handbewegung auf, näher zu treten.
»Ich kann nicht sagen, daß ich mit Camille richtig befreundet
war«, sagte Jeanne, als sie in Moniques unaufgeräumtem
Wohnzimmer saß, ein
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