Die Taeuschung
Glas Orangensaft vor sich und in ihrem
eleganten dunkelblauen Hosenanzug wie ein Fremdkörper
wirkend. »Camille ließ keinen Menschen wirklich an sich
heran. Ich habe nie eine verschlossenere Person erlebt als sie.«
»Ja, das war auch mein Eindruck von ihr«, stimmte Monique
zu. Sie hatte ihren Morgenmantel übergezogen und sich für ihr
verschlamptes Aussehen entschuldigt. »Ich bin seit ... seit dem
Ereignis irgendwie aus dem Tritt geraten. Ich sitze daheim und
werde all die Bilder nicht los, und mir fehlt jegliche Energie,
etwas Sinnvolles zu tun.«
»Das ist aber doch nur allzu verständlich!« hatte Jeanne
sofort gesagt. »Sie Ärmste, es muß ein furchtbares Erlebnis für
Sie gewesen sein.«
Ihre ehrliche Anteilnahme hatte Monique gut getan; sie
erkannte, wie sehr sie in den letzten Tagen einen Menschen
gebraucht hätte, der ihr Mitgefühl und Wärme
entgegenbrachte.
Nun fuhr sie fort: »Mir hat die kleine Bernadette immer ein
wenig leid getan. Für ein Kind ist ein derart zurückgezogenes
Leben nicht gut. Oft dachte ich, daß sie am Ende vielleicht
genauso depressiv wird wie ihre Mutter, und das noch, ehe sie
überhaupt erwachsen ist.«
»Mir ging es genauso«, sagte Jeanne. »Ich wohnte in Paris
nur zwei Häuser weiter und habe eine Tochter im selben Alter
wie Bernadette. Die beiden waren befreundet, und ich habe es
gefördert, daß sie häufig miteinander spielten. Ich wollte
wenigstens das Kind ein Stück weit aus der Isolation
herausholen. Zwangsläufig trat ich dadurch auch immer wieder
in Kontakt mit Camille. Sie wollte dies einerseits zwar nicht,
hat aber andererseits wohl erkannt, daß sie für ihr Kind ein
wenig über ihren Schatten springen mußte. So lernten wir
einander ein bißchen näher kennen.«
»Als sie starb, war sie dreiunddreißig«, sagte Monique. »Zu
jung, um so unglücklich zu sein, nicht wahr?«
»Sie konnte einfach den Tod ihres Mannes nicht verwinden.
Er war die große Liebe ihres Lebens, wie sie mir einmal sagte.
Er hat nicht einmal mehr sein Kind kennengelernt. Sie konnte
einfach nicht mehr fröhlich sein.«
»Ja«, sagte Monique, »und dabei war sie eine so schöne
Frau. Sie hätte an jedem Finger ein Dutzend Männer haben
können.«
Jeannes Körper spannte sich, fast unmerklich, doch Monique
hatte den leisen Ruck gespürt.
»Wissen Sie da etwas?« fragte sie. »Von einem Mann, meine
ich.«
Monique war verwirrt. »Nein. Warum?«
»Ich bin genau deswegen hier«, sagte Jeanne. »Weil es da
eine Geschichte gab, die ... nun, die mir jetzt irgendwie im
Kopf herumgeht, seit ich gelesen habe ... seit ich von dem
furchtbaren Unglück gelesen habe.«
»Sie haben in Paris davon gelesen?«
»Es war nur eine kleine Notiz. Hier unten hat es sicherlich
die Schlagzeilen gefüllt. Aber es wurden auch bei uns
Hinweise aus der Bevölkerung erbeten, schließlich hat Camille
ja dort gelebt.«
»Wenn es da, wie Sie sagen, eine Geschichte gab, weshalb
gehen Sie dann nicht zur Polizei?«
»Weil ich mir so unsicher bin ... ich möchte mich nicht
blamieren«, sagte Jeanne, und Monique erkannte bei ihr die
instinktive Angst und Abneigung vieler Menschen gegenüber
allem, was mit der Polizei zu tun hat.
»Ich kenne ... ich kannte Camille seit vier Jahren«, fuhr
Jeanne fort, »seit sie zum erstenmal den Wagen mit ihrer
neugeborenen Tochter an meinem Haus vorbeischob und ich
sie ansprach ... und ich kannte sie nur depressiv und
verschlossen. Im letzten Jahr allerdings, als sie im September
von hier nach Paris zurückkehrte, schien sie verändert. Ich
kann gar nicht genau sagen, was es war, sie wirkte noch immer
in sich gekehrt und still. Und doch blickten ihre Augen nicht
mehr so traurig drein, und ihr seltenes Lächeln war nicht mehr
so gequält. Ich freute mich, ich dachte, daß eben doch die Zeit
nach und nach Wunden heilen läßt.«
Jeanne spielte an ihrem Glas herum. Sie war sehr
konzentriert. »Dann, im Januar dieses Jahres, als sie von ihren
Weihnachtsferien aus St. Cyr zurückkam, wirkte sie sehr
bedrückt. Über ihre übliche Trauer hinaus, schien ein Problem
sie zu beschäftigen. Ich sprach sie darauf an, aber sie sagte, da
sei nichts. Ich akzeptierte, daß sie nicht darüber reden mochte.
Ostern fuhr sie wieder hierher, und diesmal machte sie einen
erleichterten Eindruck, als sie wiederkam. Irgendeine Last war
von ihr genommen. Ich wagte nicht, sie noch einmal deswegen
zu fragen. Aber kurz bevor sie im Juni wieder hierher reiste,
konnte
Weitere Kostenlose Bücher