Die Tage des Regenbogens (German Edition)
befreundet. Nur über eine Sache führen sie einen endlosen Streit. Sie können sich nicht einigen, wer der größte Mann der Geschichte sei. Für Papa ist es Aristoteles – mit ihm fängt alles an und endet alles, so Papa –, für Paredes ist es Shakespeare. Tief im Herzen bin ich mehr auf der Seite von Señor Paredes, aber ich lege mich doch nicht mit Papa an.
Beide sind politisch unbequem.
Obwohl man das meinem Vater nicht so anmerkt. Er ist unauffälliger. Paredes hat eine Präsenz wie ein Opernsänger.
Wenn unser Englischlehrer untertauchen müsste, würden sie ihn nach kurzer Zeit finden, denn er ist fast zwei Meter groß und seine Stimme so gewaltig, dass sie zwischen den alten Mauern dröhnt, wenn er den Klassenraum betritt. Vormittags unterrichtet er, abends spielt er in einer Theatergruppe. Er übernimmt immer die Rolle des Königs, des Anführers oder Ministers, wegen seiner beeindruckenden Erscheinung. Wenn er in die Klasse kommt, knallt er das Klassenbuch aufs Pult und begrüßt uns mit irgendeinem Satz von Shakespeare, den wir auswendig lernen und bis zum nächsten Tag schriftlich interpretieren sollen.
Der letzte hieß: »Stars, hide your fires! Let not light see my black and deep desires.« Wir zerbrachen uns die Köpfe, um herauszufinden, was Shakespeare damit sagen wollte. Es ist ja so, Macbeth will König werden, und der direkte Weg dahin ist, den König zu ermorden. Man kann ruhig sagen, so wie Pinochet. Aber er bringt es nicht so leicht über sich. Obwohl ihm seine Alte ordentlich einheizt. Die Alte ist noch schlimmer als Macbeth.
Señor Paredes nennt William Shakespeare »Uncle Bill«.
Das wird auch in der Englischprüfung drankommen, die wir nach der Premiere von Die Höhle von Salamanca schreiben, aber er hat uns versprochen, wenn wir gut spielen, will er milde korrigieren.
Nach der Prüfung verabschiedet er sich bis Oktober, falls man ihn überhaupt nach Chile zurücklässt, denn der Film, den er in Europa dreht, ist unbequem.
Ein »unbequemer« Film ist einer, der den Militärs nicht gefällt.
Noch immer ist schlechtes Wetter. Der Nieselregen sprüht uns ins Gesicht, und von den Autoabgasen müssen wir husten. Wir drängen uns unter das Dach der Bushaltestelle, um eine Zigarette zu rauchen, denn wir haben keine Lust, nach Hause zu gehen.
Neben uns steht ein Jugendlicher mit langen Haaren und blauem Mantel, er fällt uns auf, weil er in die entgegengesetzte Richtung blickt, aus der die Busse kommen. Auf einmal holt er einen Packen Blätter aus seiner Tasche und drückt jedem von uns eines in die Hand. Dann springt er in den erstbesten Bus und zwinkert uns vom Trittbrett aus zu.
Das hellblaue Blatt ist überschrieben mit »Aktion« und ruft zur Besetzung der Schule auf, als Protest gegen das Verschwinden von Lehrern. Wir stecken es in den Ranzen, ich glaube, weil wir uns schäbig vorkämen, wenn wir es auf die Straße werfen würden.
ACHTZEHN
D er Besucher, der so stürmisch an der Tür geklingelt hatte, war ein kleiner Mann mit wild abstehenden Haaren und dicker Brille. Ein Schnauzbart wucherte ihm über die Lippen. Seine Kleidung war nicht besser: ein abgetragener schwarzer Anzug mit blank gewetzten Stellen, dazwischen Wein- oder Ketchupflecken, so genau konnte Magdalena Bettini das auf den ersten Blick nicht erkennen.
»Sie wünschen?«, stellte sie den eigentümlichen Besucher zur Rede.
»Bin ich hier bei Adrián Bettini?«
»Ganz richtig.«
»Der große Werbemann Adrián Bettini?«
»Für einige ist er das.«
Der kleine Mann machte eine unangemessene Verbeugung. »Ich muss mit ihm sprechen.«
»Worum geht es?«, fragte Magdalena und versuchte, die Tür ein wenig zu schließen, um zu verhindern, dass das auf Zehenspitzen stehende Männlein ihren Mann im Wohnzimmer erspähte.
»Vertraulich.«
»Ich bin seine Frau. Mit mir können sie ganz offen reden.«
»Vertraulich, Señora, vertraulich.«
»Wenn Sie mir wenigstens sagen würden, von wem Sie kommen …«
Der Mann räusperte sich und wischte sich mit einem gräulichen Taschentuch über die Stirn. Womöglich war es einmal weiß gewesen. Auch das konnte Magdalena nicht auf Anhieb erkennen.
»Ich komme von Nico Santos. Meine Losung lautet ›Nikomachos‹. Will heißen: die Ethik von Aristoteles. Kann ich jetzt reinkommen?«
Die Frau öffnete zögerlich die Tür, und der Mann schlüpfte wie eine Eidechse hinein. Sekunden später stand er vor Bettini, der die tiefe Verbeugung seines Besuchers mit einem Kopfnicken
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