Die Tage des Regenbogens (German Edition)
Jeep fährt auf eine von Militärlastwagen abgesperrte Stelle zu. Wir sehen zwei Fotografen, die ihre Ausweise in Plastiketuis um den Hals hängen haben. Und einen Geistlichen, der aus einem Plastikbecher Kaffee trinkt. Schaulustige stehen an den Häusern oder sitzen vor den Eingängen auf der Treppe. In der Ferne drehen sich die Flügel eines Hubschraubers. Soldaten heben für Leutnant Brunas Jeep die rot-weißen Plastikbänder an.
Er grüßt sie nicht. Sie zeigen ein paar Meter weiter auf eine Straßenlaterne. Aus Zement, hoch. Das Licht ist ausgeschaltet. Am Himmel viele weiße Wolken, hier und dort brauen sie sich dunkel zusammen.
Wir sind bei der Laterne angekommen. Ein Zivilpolizist mit einer Art Feldzeichen am Revers zeigt auf eine Plane, die etwas zudeckt. Leutnant Bruna befiehlt ihm mit vorgerecktem Kinn, sie anzuheben. Der Polizist gehorcht und zieht die Plane weg. Zum Vorschein kommt ein Mann.
Señor Paredes.
Seine Augen sind geschlossen, um seinen Hals liegen blutige Tücher.
»Erdrosselt«, sagt der Mann mit dem Abzeichen zu Leutnant Bruna.
Ich bin unfähig, etwas zu sagen. Mir stockt der Atem. Etwas Warmes läuft mir die Beine runter. Ich krümme mich und falle auf die Knie.
Leutnant Bruna streicht mir mit der Hand übers Haar.
»Ich habe getan, was ich konnte, mein Junge«, höre ich ihn sagen. »Du hast mich darum gebeten, und Gott weiß, dass ich getan habe, was ich tun konnte.«
ZWEIUNDDREISSIG
I n der Untersuchungshaft fühlte er sich in vertrauter Runde. Ein Betrunkener lag ausgestreckt auf einer Holzbank, daneben saßen ein Student, der einen Schlagstock abbekommen hatte und blutete, eine Straßenverkäuferin ohne Lizenz, ein Gewerkschaftsführer in Handschellen.
Schon zwei Stunden, und nichts war vorangegangen. Hin und wieder streckte ein Beamter den Kopf zur Tür rein, warf einen Blick auf das Grüppchen und verschwand in irgendeinem Hinterzimmer. Gefängnis, das war das: Zeit, die sich ins Endlose zog, ohne dass etwas geschah. Ungewissheit. Wachsende Verzweiflung. Zermürbendes Warten. Viel Zeit, in der man sich vorstellen konnte, wie die Lieben zu Hause allmählich unruhig wurden. Irgendwann tippte ein Wachmann auf einer alten Remington einen Bericht, mit Glück würde den Monate später irgendein Richter zu lesen bekommen.
Als sie ihn das letzte Mal festgenommen hatten, wollten sie ihm eine Lektion erteilen. Bei einer Demonstration gegen eine Erhöhung der Fahrpreise hatte er eine junge Frau ausgelöst, die von Zivilpolizisten zu einem Polizeiwagen geschleppt worden war. Da er mit der Demonstration nichts zu tun gehabt hatte, sondern aus reinem Mitgefühl gehandelt hatte, konnte er bei dem Verhör nicht die Namen und Adressen der verantwortlichen Protestierenden nennen. Er kannte sie ganz einfach nicht.
Sein verdammtes Mitgefühl hatte ihn schon einige Male in gefährliche Situationen gebracht. Doch bisher hatte er immer nur sich selbst, sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt.
Die Sache jetzt konnte in eine Katastrophe münden, die viele Menschen betraf: Wenn die Bilder der »Nein«-Kampagne dem Innenminister in die Hände fielen, brächte das nicht nur alle die in Gefahr, die der Kampagne ihr Gesicht geliehen hatten, zusätzlich erführen damit seine Rivalen seine Strategie. Und dann könnten sie sich in aller Ruhe das passende Gegenstück ausdenken und so die Wirkung, die sein harmloses Werk vermutlich sowieso nicht besaß, aushebeln.
Er machte sich schwere Vorwürfe, weil er in der Botschaft Alkohol getrunken hatte, obwohl er gewusst hatte, dass er die Videokassette im Auto transportieren würde.
Klar, er war nervös gewesen, verunsichert. Zum ersten Mal sollte er sein Opus magnum den politischen Führern des »Nein« vorführen, und er fürchtete ihr Urteil. Er war einfach aus der Übung. Was war mit ihm los gewesen, dass er allen Ernstes dem eitlen Gedanken verfallen war, er könnte Chile retten! Was für eine Anmaßung. Niemand hatte bis dahin Chile retten können, nicht die vielen, die in Widerstandsbewegungen zu Märtyrern geworden waren, nicht die ernsthaften Kämpfer, nicht die Hunderttausende von Freiheitsliebenden, die sich überall gegen die Unterdrückung stellten. Wie hatte er so dumm sein können, diesen Auftrag anzunehmen, der ihm kein Gramm Ruhm eintrug, nur Höllenqualen.
Da ihm selbst nichts eingefallen war, hatte er sich an die aberwitzige Idee dieses Spinners gehalten: den Nein-Walzer von Raúl Alarcón.
Jetzt konnte sein Film in die Hände des Feindes
Weitere Kostenlose Bücher