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Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Titel: Die Tage des Regenbogens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Skármeta
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nur ein Wort: »Santos.«
    Sie nickt mir zu, und das heißt, ich soll hineingehen.
    Zögernd betrete ich dieses mit schlechten Erinnerungen behaftete Zimmer. Zweimal bin ich dort gewesen. Das eine Mal bekam ich einen Schulausschluss wegen schlechten Betragens, und so eine Strafmaßnahme verhängt der Schulleiter: »Kommen Sie mit Ihrem Erziehungsberechtigten.« Das andere Mal hatte ich miserable Zensuren in Chemie. »Schwefelsäure. Schreiben Sie die Formel hundert Mal in Ihr Heft, Santos.« »Wasser, Herr Lehrer! H 2 O! Lassen Sie mir ein wenig Zeit, Herr Guzmán.« »Ich werfe dich nur nicht raus, weil du der Sohn von Señor Santos bist.«
    »Es wird nicht wieder vorkommen, Herr Rektor.«
    »Ich werde lernen. Ich verspreche es.«
    Heute kommt mir der Raum noch dunkler und kälter vor als die anderen Male. Der ausgeschaltete Paraffinofen. Die schweren Vorhänge. Die Ölgemälde der Ehemaligen unserer Schule, die noch altertümlicher aussehen. Die kalten Farben. Viel Schwarz und Braun, Blau, Grün.
    Der Rektor sitzt hinter seinem Schreibtisch, er scheint irgendetwas zu zeichnen. Vielleicht Kreise auf ein Blatt. Das mache ich auch manchmal. Eine abwartende Haltung.
    In dem klobigen, von einer Katze zerkratzten Ledersessel erblicke ich Leutnant Bruno. Er hat sein Käppi akkurat auf seine geschlossenen Beine gelegt. Ausdruck seiner Disziplin.
    Niemand sagt etwas.
    Sie begrüßen mich nicht.
    Und ich sage auch nichts.
    »Kalt draußen«, bemerkt der Rektor.
    Wie um das zu überprüfen, geht er zum Fenster und hebt den Vorhang an. Das Licht, das ein paar Sekunden lang hereinfällt, erhellt kurz das Gesicht des wie abwesend auf seine Schuhspitzen starrenden Armeeleutnants. Das Schweigen dauert noch immer an, und ich reibe mir die Oberschenkel.
    »Ja, es ist kalt«, wiederholt der Leutnant nach einer Ewigkeit. »Haben Sie Ihren Mantel dabei, Santos?«
    Sie werden mich mitnehmen, denke ich. Tränen schießen mir in die Augen. Ich bange um mich. Und noch mehr um Papa. Ich halte die Tränen zurück.
    »Santos«, sagt der Leutnant, der mich noch immer nicht ansieht. »Das Leben ist schwer, für alle. Für ein Mitglied der Armee wie für einen Lehrer. Und auch für einen Schüler. Verstehen Sie?«
    Schon, aber ich weiß nicht, was er damit sagen will. Will er mir sagen, dass sie mich mitnehmen werden? Meine Lederjacke hängt im Klassenzimmer am Haken. Meine schwarze Lederjacke, an der die Regentropfen runterrinnen. Ich gefalle mir in ihr. Und es gefällt mir, wenn Patricia mir schäkernd auf den Rücken klopft und es dieses Klatschgeräusch gibt.
    Ich höre den Kugelschreiber des Rektors übers Blatt kratzen. Da sind wir drei nun und zelebrieren die Stille. Wie wenn jemand gestorben ist und man eine Gedenkminute einlegt. Ein Bus mit defektem Auspuff fährt vorbei; als er sich entfernt, ist da wieder die Stille. Und bläht sich nur noch mehr auf.
    »Ich …«, sagt Leutnant Bruna.
    Und bricht ab.
    Plötzlich stürzt er sich auf mich und umarmt mich. Dann hält er mich von sich weg und sieht mich an. Er ist traurig. Leutnant Bruna ist zutiefst traurig. Mir zittern die Knie. Ich will ihn fragen, was los ist, aber meine Kehle bringt keinen Ton hervor.
    Papa, denke ich.
    Der Armeeleutnant putzt sich die Nase und nimmt wieder Haltung an. Er öffnet die Tür und bittet die Sekretärin, meine Jacke aus dem Klassenzimmer zu holen.
    »Sie ist schwarz. Eine Lederjacke«, ergänze ich.
    »Schwarz. Aus Leder«, wiederholt er.
    Draußen steht ein Jeep mit laufendem Motor. Am Steuer sitzt ein Soldat im Kampfanzug. In Wüstentarnfarbe. Wie aus einem Film.
    Ich ziehe den Reißverschluss hoch. Jetzt ist nur noch mein Kinn der Kälte ausgesetzt. Der Jeep hat kein Dach. Morgen schreiben wir Geschichte. Ich kann nicht lernen. Mein Notendurchschnitt ist schlecht. In Englisch, Philosophie und Spanisch schlage ich mich so durch, bei unserer Kunstlehrerin habe ich einen Stein im Brett.
    An der Ampel hält der Jeep an. Ich traue meinen Augen nicht. Vor uns gehen Patricia Bettini und Laura Yáñez Arm in Arm über die Straße. Sie wirken ausgelassen. Sie haben keine Ahnung, in welcher Lage ich mich befinde. Ich frage mich, ob Santiago immer schon eine traurige Stadt war. Ich verkneife es mir, ihnen zuzurufen. Sie würden tot umfallen, wenn sie mich in diesem Armeejeep sähen.
    Leutnant Bruna reibt sich das Gesicht. Die Kälte ist schneidend.
    Wir fahren hoch nach Recoleta, hinein nach Salto und gelangen in ein Viertel mit vielen leeren Grundstücken.
    Der

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