Die Tage des Regenbogens (German Edition)
er auf die Gipfel Engel gesetzt, die ihre Flügel ausschütteln. Keine Ahnung, was er damit sagen will.
Ich brauche nicht lange nachzudenken. Auf die Rückseite schreibe ich »Lebensfreude«, und vorne drauf male ich einen Regenbogen.
Schulinspektor Pavez kommt herein. Wir haben die Anweisung, bei jedem Besuch aufzustehen. Aber der Inspektor zeigt uns mit den Händen an, dass wir uns wieder setzen sollen. Etwas an der Art, wie er in meine Richtung guckt, sagt mir, dass ich mich nicht setzen soll. Und so ist es, er ruft mich mit rauer Stimme auf.
»Santos!«
Ich weiß, was alle meine Klassenkameraden jetzt denken. Ich weiß, dass sie sich an den Tag erinnern, an dem sie meinen Vater mitgenommen haben. Und ich weiß, dass sie wissen, dass sie jetzt auch mich mitnehmen werden. Papa hatte recht. Ich hätte mich nicht in Schwierigkeiten bringen dürfen. Es war dumm von mir, dass ich vor Leutnant Bruna meine kleine Rede gehalten habe. Der Inspektor blickt ernst. Sehr ernst. Ich fürchte, dass sie meinen Vater gefunden haben. Ich fürchte, dass sie ihn tot gefunden haben und der Rektor mir das gleich sagen wird und dass Pavez’ Gesicht deshalb so verkrampft ist.
Die anderen Jungen haben sich wieder hingesetzt, alle bis auf Che.
»Ich komme mit dir«, sagt er zu mir.
Er legt mir den Arm um die Schulter und drückt mich. Mir schnürt es die Kehle zu. Ich sehe unsere Wasserfarbenbilder auf dem Tisch und überlege kurz, ob ich noch schnell meine Sachen in den Ranzen packen soll, bevor sie mich mitnehmen. Alles geht quälend langsam: Ich will nicht gehen, und auch Inspektor Pavez will offenbar den Moment hinauszögern.
»Worum geht es, Inspektor?«, fragt die Kunstlehrerin gutmütig.
Der Mann gibt keine Antwort, stattdessen treibt er mich an, mich zu beeilen. Ich beschließe, alles stehen und liegen zu lassen.
»Warum hast du statt Schnee Engel gemalt, Che?«, frage ich ihn und löse mich aus seiner Umarmung.
»Wir brauchen Verrückte.«
Er blättert in seinem Skizzenheft, auf fast allen Seiten ist ein Engel. Manche fliegen, manche lümmeln oder sitzen am Rinnstein oder haben ein Huhn in der Hand.
DREISSIG
A ls Bettini mit dem Video der »Nein«-Kampagne in der Hand ins Auto stieg, zitterte er am ganzen Leib. Und daran war nicht der viele Alkohol schuld, sondern die ablehnende Reaktion der Politiker auf seine Arbeit. Sie fanden seine Kampagne harmlos, eine nette Fußnote, mit der man keinen Blumentopf gewinnen konnte.
Die vielen schlaflosen Nächte, die er am Klavier gesessen und sich »Lebensfreude« entrungen hatte, waren umsonst gewesen, und seine Auftraggeber hatten nicht mehr für ihn übrig gehabt als ein gequältes Lächeln.
Der Innenminister war so brutal gewesen, ihm das Schlüsselbein brechen zu lassen – seine Kunden nun hatten auf seiner Seele herumgetrampelt.
Sein Magen verkrampfte sich, und er musste schluchzen. Der Nieselregen passte zu seiner trüben Stimmung. Er verging vor Selbstmitleid.
Dieses »Nein«, das sein beruflicher Neubeginn hätte werden sollen, war sein Entlassungsschreiben geworden. Sein Vater hatte ihm beigebracht, niemals zu große Erwartungen in etwas zu setzen, sein Leben nicht von der Entscheidung einer Firma abhängig zu machen. »Rechne immer damit, dass du verlieren wirst.« Das war genau das Gegenteil der positiven Lebenseinstellung von Magdalena und ihren Freundinnen: Tipps für eine bessere Verdauung, Hilfe zur Selbsthilfe, Buddhismus im Alltag, Zen hier und Zen dort. Wenn man negativ denkt, erfährt man nur negative Reaktionen. Wenn man positiv denkt, fliegt einem das Glück nur so zu. Er hatte an dieses »Nein« geglaubt wie ein Kind, das sich auf sein Glück verlässt. Er hatte alle seine Sehnsüchte da hineinprojiziert. Es sprach gegen jede Vernunft, dass David Goliath besiegen würde. Dass die Poesie die Kraft besäße, um das Monstrum einfach umzupusten.
Magdalena war verblendet. Nur Jammergestalten trugen in dieser Diktatur den Kopf hoch: Raúl Alarcón mit seinem »Partner« Strauß, Olwyn, der allen Ernstes daran glaubte, er könnte der König der Freiheit werden.
Er drehte den Zündschlüssel um, schon roch er die Abgase, die durch die löchrige Karosserie hereindrangen. Der Smog lag auf Santiago wie ein träges Tier, bei Regen war es gleich doppelt so schwer, und es ernährte sich von den Unmengen Autos, die sich zur Hauptverkehrszeit mühsam, mehr stehend als fahrend, durch die Straßen quälten.
Bald würde es Frühling, aber nicht für die Dichter.
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